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Samstag, April 27, 2024
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    Interview mit YPJ Information Center: “Die Ereignisse in Gaza und in Rojava können nicht unabhängig betrachtet werden”

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    Rojava ist bereits seit dem 4. Oktober einer erneuten aggressiven Militäroffensive des türkischen Staats ausgesetzt. Wasser- und Energieversorgung wie auch medizinische Einrichtungen und Schulen stehen unter dem massiven Artilleriefeuer der türkischen Armee. Darüber spricht Berivan Amude, eine der Sprecherinnen des “YPJ Information Center” in Rojava – ein Interview mit Esther Zaim.

    Zur aktuellen Situation in Rojava und zu internationalen Kämpfen konnten wir ein Interview mit Berivan Amude führen. Sie ist eine der Sprecherinnen für das Information Center der YPJ (kurdisch:Yekîneyên Parastina Jin), der Frauenverteidigungseinheiten in Rojava.

    Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) – auf kurdisch Rojava – ist ja nun erneut seit einigen Wochen starken militärischen Angriffen durch die türkische Regierung ausgesetzt. Wie erlebt ihr momentan die Militäroffensive und welche humanitären Krisen haben sich seitdem ergeben oder verstärkt?

    Berivan: Seit dem 4./5. Oktober gibt es wieder sehr starke Angriffe auf Nord- und Ostsyrien und das Gebiet um Rojava. Dazu muss man sagen, dass es sich hierbei nicht um plötzliche Angriffe handelt, sondern Teil eines längerfristigen Plans der Türkei ist, große Regionen von Südkurdistan (dem Norden Iraks) und Westkurdistans, also Nordsyriens zu besetzen.

    Dabei ist deutlich zu beobachten, dass damit eine anhaltende genozidale Strategie gegenüber kurdischen und anderen Bevölkerungsteilen, wie z.B. den Christen verfolgt, wird. Dies konnte schon bei den vorherigen Besetzungskriegen von 2018 und 2019 in Afrin, Serêkaniyê (arabisch: Raʾs al-ʿAin) und Girê Spî (arabisch: Tall Abyad) beobachtet werden, bei dem die Angriffe des türkischen Militärs darauf abzielten, die lokale Bevölkerung von dort zu vertreiben und zu töten, um andere Bevölkerungsgruppen anzusiedeln.

    Die aktuellen Ereignisse sind die weiteren Maßnahmen dieser Besetzungstaktik. Das militärische Mittel dazu sind Drohnen- und Kampfflugzeugeinsätze des türkischen Militärs, welche Zielobjekte ausspähen und eliminieren. Ein Beispiel dafür ist der tödliche Drohnenangiff in einem Dorf in der Nähe von Kobanê (arabisch: Ain al-Arab) vom 23. Juni 2020, bei dem drei aktive Vertreterinnen von ‘Kongra Star’, dem Dachverband der Frauenbewegungsorganisationen in Rojava, in ihrem Garten gezielt getötet wurden. Auch erst letzten Monat wurden in Minbic (arabisch: Manbidsch) wieder drei Kämpferinnen der YPJ, die gegen die IS-Milizen und Söldnergruppen kämpften, Opfer einer gezielten türkischen Drohnenattacke.

    Es gibt eine sehr lange Reihe solcher fatalen Beispiele. Seit dem 4. Oktober erleben wir eine extreme Steigerung der Angriffe auf die Infrastruktur und Zivilist:innen. Dabei ist das Ausmaß der Angriffe, gemessen am Vorjahr im November 2019, nochmal deutlich intensiver geworden. Der Schaden für die Zivilbevölkerung ist verheerend, denn ungefähr fünf Millionen Menschen dieser Region leiden nun an den Folgen der zerbombten Infrastruktur. Es wurden elf Elektrizitätswerke, ein Großteil der Gas- und Ölförderstationen und zwei Wasserwerke bombardiert und sind nun außer Betrieb. Der wirtschaftliche Schaden der Region ist durch diese Zerstörung schwerwiegend.

    Seit der türkischen Militäroffensive vom 4. Oktober sind sehr viele Zivilist:innen zum Ziel geworden. Die jüngsten Opfer dieser Angriffe sind zwei Kinder von 9 und 10 Jahren, die durch einen Drohnenbeschuss in Minbic ihr Leben gelassen haben. Ein weiteres Massaker ist bei den Luftangriffen auf Dêrik (arabisch: Al Malikiya) begangen worden, bei dem 29 Angehörige einer Akademie der Anti-Drogen-Einheit der Asayîş (Innere Sicherheitskräfte der Autonomen Region Kurdistan) zielgerichtet getötet und viele weitere Personen schwer verwundet wurden. Viele von ihnen waren Eltern und hinterlassen nun tief traumatisierte Familien. Die Türkei verstößt dabei ganz offensichtlich gegen internationales Völker- und Kriegsrecht.

    Das türkische Militär setzt systematisch ‘Double Tap’-Attacken ein, was bedeutet, dass nach einem zerstörerischen Luftangriff ein sofortiger zweiter gezielter Angriff auf herbeieilende Ersthelfer, Rettungskräfte oder noch Überlebende ausgeführt wird. Durch eine massive Demolierung der Infrastruktur ist die Hilfeleistung bei Angriffen sowieso schon sehr schwer umzusetzen. Die Zivilbevölkerung muss teilweise ohne Strom und Wasser ausharren und den gewaltvollen Verlust von Angehörigen und Freunden erleiden. Die Situation ist hier sehr dramatisch für alle in der Region. Von den Luftangriffen sind auch Geflüchtetencamps der Region nicht ausgenommen. In der Nähe von Hesekê (arabisch Al-Hasaka) wurde das Geflüchtetencamp ‘Waşûkanî’, das vielen geflohenen Menschen aus Serêkaniyê Schutz und Obdach bietet, durch einen Drohnenanschlag in unmittelbarer Nähe getroffen.

    Einige internationale NGO verließen im Zuge dieser Bedrohungslage das Camp, was ausbleibende Versorgung und unterbrochene Hilfeleistung für die Menschen im Lager zur Folge hatte. Wir stellen auch fest, dass es momentan keine verbündeten Kräfte gibt in der Region, die uns politisch uneigennützig unterstützen. Wir haben in der Vergangenheit die Erfahrungen gemacht, dass einige internationale NGO politisch, wie auch ideologisch Einfluss nehmen wollten, gerade in Bezug auf die wirtschaftlich wichtigen Zentren der Öl- und Gasfelder. Hier wurden bereits Gegenforderungen gestellt und diesen politischen Einwirkungsversuchen stellen wir uns natürlich entgegen.

    Die Angriffssituation auf die Region lässt sich als stufen- und schubweise auftretend beschreiben, wobei die besetzten Gebiete um Afrin, Serêkaniyê und Girê Spî unter dauernden Angriffen durch das türkische Militär und diversen Söldnertruppen stehen und die Zivilist:innen sich im Prinzip in einem Zustand ständiger Bedrohung und spontaner Attacken befinden.

    Wie erlebt ihr die internationale mediale Reaktion auf die systematische Aggression und Repression des türkischen Staats auf kurdische Siedlungsgebiete? Erkennt ihr darin starke Verschiebungen oder Widersprüche seit der erneuten Eskalation in Gaza?

    Berivan: Die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen und die Situation in Nord-und Ostsyrien können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Die medialen Berichterstattungen über die Konfliktgebiete stehen zeitlich auch sehr nah beieinander, da der türkische Angriff auf Rojava am 4. Oktober begann und sich bereits drei Tage später am 7. Oktober der Israel-Palästina-Konflikt extrem verschärfte. Schon am 4. Oktober – zu Beginn der türkischen Militäroffensive – gab es kaum bis gar keine relevanten internationalen Pressemeldungen zur Lage in Kurdistan, obwohl hier schwere Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und medizinische Einrichtungen begangen wurden und werden.

    Diese von der Türkei verübten Kriegsverbrechen und die Verstöße gegen internationales Recht sind durch die mediale Aufmerksamkeit für Israel und Palästina in der Presse ausgeblendet worden. Seit einigen Jahren schon sieht sich die kurdische Befreiungsbewegung mit stetigen völkerrechtswidrigen Chemiewaffenangriffen konfrontiert, die viele Menschen in Kurdistan das Leben kosten oder nachhaltig ihre Gesundheit schädigen. Wir beobachten, dass diese Aspekte und Themen medial totgeschwiegen werden und dass dies politisch auch explizit so gewollt ist. Das hat auch damit zu tun, dass in der Türkei, wie auch international, zentralisierte Medienkonzerne unter staatlicher Kontrolle und Finanzierung eine dominierende Position einnehmen und daher eine dirigierte Meinungsbildung für die Massen im Sinne staatlicher Interessen und Akteur:innen betrieben wird.

    Am Beispiel Kurdistans liegt es klar auf der Hand, dass die Türkei als NATO-Mitglied ihre internationale diplomatische Integrität vordergründig wahren muss. Auch im Israel-Palästina Konflikt steht die Berichterstattung nicht im Dienste der Mehrheit der Menschen und liefert daher nur sehr verzerrte und verschwommene Informationen oder blendet diese ganz nach eigenem Interesse vollends aus. Dies lässt auch starke Parallelen zum kurdischen Befreiungskampf erkennen, da die mediale Abbildung der Realität durch die staatlichen Propagandaorgane von kapitalistischen Kräften gelenkt wird. Von daher sind beide Krisenregionen von der Berichterstattung eher negativ betroffen, trotz erhöhter medialer Aufmerksamkeit.

    In der Türkei will Erdoğan das Leid der palästinensischen Bevölkerung politisch für seine eigene Agenda instrumentalisieren. Er beschreibt die Hamas in aller Öffentlichkeit als Befreiungsorganisation. Hakan Fidan, der türkische Außenminister, kritisiert dabei öffentlich scharf die Siedlungspolitik der israelischen Politik, die durch illegale Besetzung Landraub und Vertreibung an der palästinensischen Zivilbevölkerung begeht, und beschreibt damit zynischerweise deckungsgleich das gesetzeswidrige Vorgehen der türkischen Regierung in den kurdisch und arabisch besiedelten Regionen, wie in Afrin, Serêkaniyê und Girê Spî.

    Die Menschen in Kurdistan werden zur Flucht gezwungen, verängstigt, gefoltert, überwacht und durch Söldnergruppen alltäglich terrorisiert – all das durch die Anordnung und Ausführung der türkischen Staatsregierung. In diesen Gebieten werden dann wiederum regierungstreue Bevölkerungsteile oder Söldnerfamilien angesiedelt. Dieser Aspekt der extremen Vetternwirtschaft ist ausschlaggebend für die Funktionsweise des türkischen Regimes: So ist es dann nicht verwunderlich und naheliegend, dass der Vorsitzende und technische Direktor des türkischen Rüstungsunternehmens ‘Baykar’ der Geschäftsmann Selçuk Bayraktar ist, der wiederum der Schwiegersohn von Erdoğan ist. Dieses Unternehmen liefert die Kriegsdrohnen, die bei ihren Einsätzen viele Menschen das Leben kosten.

    Die Heuchelei Erdoğans, die palästinensischen Befreiungsbestrebungen zu unterstützen, ist daher kaum zu übertreffen, da die türkische Regierung selbst die gleichen Verbrechen und die Tötungen von Zivilist:innen begeht, die sie der israelischen Regierung vorwirft. Zusammenfassend können wir klar sagen, dass es keine genügende und gerechte Berichterstattung über die Lage und die Angriffe auf Kurdistan gibt. Gerade in Bezug auf die tödlichen Chemie- und Nuklearwaffeneinsätze durch das türkische Militär speziell in Südkurdistan herrscht ein dramatisches mediales Schweigen. Das faschistische türkische Regime unterbindet jegliche Pressemeldungen darüber im eigenen Land oder geht repressiv dagegen vor. Im europäischen und übrigen internationalen Ausland sind es vereinzelt linke Medienformate, die sich für demokratische und menschenrechtliche Anliegen einsetzen und regelmäßig und intensiv über die Konflikte in Kurdistan berichten.

    Welche Schwierigkeiten und Prioritäten ergeben sich zurzeit für den kurdischen Widerstandskampf und welche Perspektiven und (veränderte) Handlungsmechanismen folgen daraus?

    Berivan: Im kurdischen Befreiungskampf gab es in den letzten Jahrzehnten viele ideologische Anpassungen und Veränderungen. Wichtigster Kernpunkt der kurdischen Revolution in Nord- und Ostsyrien ist die ideologische und philosophische Ausrichtung und Perspektive, basierend auf den Schriften von Abdullah Öcalan aus der Zeit seit seiner Festnahme durch den türkischen Staat auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer.

    In diesen Gefängnisschriften wird ein klarer Entwurf und eine Anleitung zum Aufbau eines demokratischen Konföderalismus niedergeschrieben. In diesem Systementwurf stehen die Befreiung der Frau und die Ökologie im Mittelpunkt und werden durch die aktuelle Lebensrealität in Kurdistan geprägt. Die Herausforderung besteht darin, diese Ideale in ihrer Praxis zu erreichen und die staatlich-kapitalistische und feudale Grundordnung abzustreifen und zu bekämpfen. Dies betrachten wir als alltäglichen und fortdauernden Prozess, der durch den Willen zur Freiheit auf die Perspektive einer gemeinschaftlichen und demokratischen Lebensweise hinarbeiten soll. Die größten Schwierigkeiten und Hindernisse sind dabei, die Veränderungen und das Ablegen jahrtausendealter tradierter und festgefahrener patriarchaler Mentalitäten zu erreichen.

    Die Gründung der YPJ im Zuge der Revolution in Rojava und die Formation von Selbstverteidigungseinheiten nach 2013 war ein entscheidender Schritt, die eine maßgebliche gesellschaftliche Veränderung für die soziale Stellung der Frau nach sich zog, die sich nun als aktive und gleichberechtigte Kämpferin für die Freiheit ihrer Gesellschaft einsetzt und definiert. Dieser Wandel in Nord- und Ostsyrien ist natürlich kein abgeschlossener Vorgang, entwickelt sich immer weiter und symbolisiert den Anstoß für einen feministischen Fortschritt. Die YPJ hat eine immens wichtige Position im Kampf gegen den IS eingenommen und bekämpft noch heute die Überbleibsel und Schläferzellen der Dschihadisten.

    Das neue feministische Bewusstsein wird auch durch den Faktor des Kampfes gegen den unterdrückerischen türkischen Staat bedroht und es ist uns wichtig, in diesem Kontext die Philosophie der Selbstverteidigung in feministischer, politischer und militärischer Hinsicht zu stärken. Die YPJ muss sich in ihrer Organisation diesen Bedingungen stetig anpassen und in Bezug auf veränderte Problemlagen und technische Veränderungen reaktionsfähig bleiben. Das System des demokratischen Konföderalismus entwickelt sich somit positiv und zeitgleich weiter. Die Perspektive ist seit Beginn der Revolution vorhanden und bleibt klar erhalten. Der kurdische Befreiungskampf ist nicht isoliert zu betrachten und geht fest einher mit dem demokratischen Zusammenleben von verschieden Bevölkerungsgruppen und Glaubensgemeinschaften. Das befreite Gesellschaftsmodell von Rojava soll sich autonom entwickeln können, aber auch gemeinschaftliche Prinzipien verfolgen. Dieses gegenseitige Wechselspiel soll auch als ein internationales Vorbild für demokratische- und Frauen-Befreiungsbewegungen, die gegen die Realität der kapitalistischen Moderne einstehen, eine stabile Handlungsperspektive bieten.

    Wir danken Berivan Amude vom YPJ Information Center für dieses Interview.

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