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Sonntag, April 28, 2024
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    Xinjiang: Genozid durch Geburtenkontrolle?

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    Neusten Medienberichten zufolge werde an den chinesischen UigurInnen ein Völkermord verübt, indem die Zwei-Kind-Politik Beijings auch auf Minderheiten angewandt wird. Als “Experte” wird dabei der dubiose Adrian Zenz herangezogen. Als Evangelikaler kritisiert er auch Gleichberechtigung und Entkriminalisierung von Homosexualität. Dabei bräuchte es eine allseitige anti-chauvinistische Kritik der Lage in China. – Ein Kommentar von Pa Shan.

    Chinas Ein-Kind-Politik war wohl das bis heute größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte“, schreibt der chinesische Naturwissenschaftler und Ökonom Huang Wei. In der Tat beeinflusste dieses Experiment das bevölkerungsreichste Land der Welt nicht nur dreieinhalb Jahrzehnte lang, sondern wirkt auch heute noch nach.

    Studien zeigen, dass die Geburtenrate das Verhältnis von Männern und Frauen und die Aufstiegschancen armer ChinesInnen massiv beeinflusst hat – was keineswegs immer ohne Dramatik verlaufen ist.

    1980 eingeführt, sollte die Ein-Kind-Politik das rasante Wachstum der chinesischen Bevölkerung verlangsamen und gleichzeitig das rasante Wachstum der Volkswirtschaft ermöglichen, dass im Wesentlichen drei Jahrzehnte lang anhielt.

    Die Bevölkerungszahl sollte sich zur Jahrtausendwende bei 1,2 Milliarden stabilisieren und das Land zu „bescheidenem Wohlstand“ kommen. Dafür sollte ein optimales Gleichgewicht zwischen der Bevölkerungszahl, den natürlichen Ressourcen des Landes und dem Stand der Volkswirtschaft erreicht werden.

    Geburtenkontolle

    Seither werden ChinesInnen gesetzlich dazu verpflichtet, eigenständig Geburtenkontrolle einzuhalten. Nicht nur sollten Ehepaare sich auf ein Kind beschränken, sondern Ehe und Schwangerschaft möglichst spät vollziehen. Dadurch bliebe Männern und Frauen genügend Zeit, sich zu bilden und ökonomisch unabhängig zu machen, und die Zahl der zu versorgenden Menschen bliebe kontrollierbar.

    Ehepaare, die sich nicht daran hielten, konnten mit Geldstrafen belegt oder zu Sterilisationen gezwungen werden. Da Männer üblicherweise mehr Einkommen bringen und in der männlich dominierten Kultur Chinas höher geschätzt werden als Frauen, hat sich ein frauenfeindlicher Trend durchgesetzt: Abtreibung weiblicher Föten, Mädchentötung, Gewalt an Frauen und ein Überschuss von 30 Millionen Männern im Vergleich zu den Frauen.

    Diese Politik betraf aber nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Auf dem Lande lebende und schlecht gestellte Ehepaare durften mehr Kinder bekommen. Auch die 55 staatlich anerkannten ethnischen Minderheiten des Landes – darunter TibeterInnen und UigurInnen – durften drei Jahrzehnte lang deutlich mehr Kinder bekommen.

    Deswegen gibt es in Tibet und Xinjiang viele kinderreiche Familien, während es in den bevölkerungsreichsten Gebieten Chinas, die von der Han-chinesischen Mehrheit dominiert werden, fast nur Einzelkinder gibt.

    Mit dem Antritt des neuen Präsidenten Xi Jinping im Jahre 2013 änderte sich all das. Die Machthaber verkündeten ein Ende der Ein-Kind-Politik und gingen zu einer allgemeinen Zwei-Kind-Politik über. Ehepaare sollten nun darauf abzielen, zwei Kinder zu bekommen. Allerdings betrifft das seither nicht nur die Han-ChinesInnen, sondern auch die ethnischen Minderheiten wie die UigurInnen. Beijing zufolge würden damit alle Ethnien des Landes gleich behandelt.

    Die Zwei-Kind-Politik in Xinjiang

    Spätestens seit 2013 konnten sich die Minderheiten Chinas auf eine Geburtenpolitik einstellen, die nicht nur die Han betreffen, sondern auch ihnen eine späte Heirat, späte Geburten und Beschränkung auf zwei Kinder auferlegen würde. Bis dahin hatte es in Xinjiang ein rasantes Bevölkerungswachstum gegeben, das in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Unterentwicklung des Gebiets stand.

    Beijing will die unterentwickelten Gebiete wie Tibet und Xinjiang besser in die staatskapitalistische Volkswirtschaft des Landes integrieren. Daher betreibt sie eine Minderheiten- und Modernisierungspolitik, die auf eine Integration bzw. Assimilation abzielt.

    Die Ausbildungszentren, die in Xinjiang in den letzten Jahren aufgebaut wurden, sollen nach Aussagen der Staatsführung nicht nur der Abwehr fundamentalistischer Tendenzen unter den chinesischen Muslimen („Islamismus, Separatismus, Terrorismus“), sondern auch ihrer “Weiterbildung” und “Integration” dienen.

    Eine geringere Geburtenrate und eine längere und hochwertigere Ausbildungszeit soll es nun auch ihnen ermöglichen, ihr „Humankapital“ zu erhöhen und damit überall in China Jobs erhalten zu können. Bisher lernen uigurische Kinder sowohl Chinesisch als auch Uigurisch und der Staat fördert große Teile der uigurischen Kultur nach wie vor, während er zugleich IslamistInnen bekämpft und ihre Moscheen schließt.

    Ob diese Politik die Menschen nur integriert oder ob sie diese sogar assimiliert und ihnen ihre ethnische Kultur nimmt, ist fraglich. Dass Menschen dabei viel durchleiden müssen, muss nicht wundern.

    Jedenfalls wird die Politik in Xinjiang nicht nur durch frauenfeindliche Praktiken, sondern auch von verschiedenen Nationalismen begleitet. So treffen in Xinjiang männlicher Chauvinismus, panturkischer und panislamischer Nationalismus und Han-Chauvinismus aufeinander. Kapitalismus, Nationalismus und Modernisierung gehen häufig über Leichen, wie jede Art von Chauvinismus.

    Gegen Chauvinismus aller Art!

    Die Politik Beijings ist also nicht unschuldig und keineswegs unproblematisch. Von einigen KritikerInnen wird sie sogar als „kultureller“ oder „schleichender Genozid“ bezeichnet. Scheinbar verstehen diese KritikerInnen alles als „Völkermord“, was als erzwungene Integration oder Assimilation gelten kann.

    Auffällig ist dabei, dass sie nicht nur einen doppelten Maßstab anlegen, sondern westlich-imperialistische Interessen bedienen, wie der viel zitierte „Xinjiang-Experte“ Adrian Zenz – zuletzt in der Hauptmeldung von tagesschau.de zur Lage der Uiguren.

    Zenz hat seine viel beschworene Expertise über Online-Kurse an einer amerikanischen Privathochschule ergattert. Die Rede ist von der „Columbian International University“, deren erklärtes Ziel die weltweite Missionierung im Sinne einer evangelikalen Interpretation der Bibel ist. Nachdem der Bildungsweg des überzeugten Bibel-Esoterikers abgeschlossen war, begann er, für eine fragwürdige Einrichtung in Deutschland zu arbeiten: die „European School of Culture and Theology“ in Korntal bei Stuttgart.

    Diese hochschulartige Einrichtung ist eine religiös und politisch motivierte Denkfabrik, zu deren Trägern die „Arbeitsgemeinschaft evangelikaler Missionen“ und die „Evangelische Brüdergemeinde Korntal“ gehören.

    Beide Organisationen sind religiöse Zentren, von denen aus zweifelhafte Propaganda und Praktiken verbreitet werden. Dazu gehört allem Anschein nach auch systematischer Kindesmissbrauch.

    Die Brüdergemeinde in Korntal ist nicht nur Träger der Einrichtung, an der über Xinjiang und die Uigurenfrage geforscht und gelehrt wird, sondern sie betreibt auch mehrere Kinderheime. Seit vielen Jahrzehnten wurden in diesen Heimen Kinder sexuell missbraucht.

    Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Bis zu 300 Kinder seien Opfer von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt“ durch 81 namentlich bekannte Täter geworden. Das Land Baden-Württemberg hat die Brüdergemeinde dazu verpflichtet, Opfern dieses systematischen Missbrauchs 20.000 Euro Entschädigung zu bezahlen, sofern sie sich bis Juni 2020 melden.

    Mit diesem mehr als nur fragwürdigen Hintergrund maßt es sich der angebliche Menschenrechtler und „Experte“ an, die Volksrepublik China zu kritisieren, wobei er bisher vor allem spekuliert und Zahlen willkürlich „hochrechnet“. Man könnte vermuten, dass er die Leitmedien in aller Welt wissentlich in die Irre führt, um seine religiös und politisch motivierte Propaganda zu verbreiten. Aber die Spekulationen sollten wir den christlichen FundamentalistInnen überlassen.

    Bis dahin können wir gespannt auf die neuesten Zahlen seiner Studie warten, in der die Zwei-Kind-Politik Chinas als Instrumente eines rassistisch und zugleich kommunistisch motivierten Genozids darstellt wird. Übrigens sollte dabei beachtet werden, wer diese Studie finanziert hat: die extrem antikommunistische “Jamestown Foundation” in Washington, die von neokonservativen Geostrategen betrieben wird.

    Ob die neueste China-Studie des US-finanzierten Evangelikalen und Antikommunisten Adrian Zenz wissenschaftlicher sein wird als seine vorherigen Hochrechnungen, wird sich zeigen. Auch wird sich früher oder später klären, warum ausgerechnet die Modernisierung Xinjiangs als „Völkermord“ bezeichnet wird, während die mörderische Eroberungspolitik des Erdogan-Regimes gegen die KurdInnen und die des zionistischen Staates gegen die PalästinenserInnen nicht verurteilt wird. Könnte es daran liegen, dass Kurdistan und Palästina – anders als die Supermacht China – keine geopolitischen Konkurrenten der USA sind?

    In jedem Fall sollten wir gegen jeglichen Chauvinismus kämpfen – ganz gleich, ob es sich um rassistischen Han-Chauvinismus, uigurischen Panislamismus, US-Imperialismus, männlichen Chauvinismus gegen Frauen in China oder christlich-fundamentalistischen Kindesmissbrauch in Korntal handelt.

    • Perspektive-Korrespondent, Chinaforscher, Filmliebhaber, Kampfsportler

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