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Freitag, April 26, 2024
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    Deutschland und der Völkermord an den Armenier:innen

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    In diesem zweiten Teil der Artikel-Reihe zum 106. Jahrestag des Genozids an den Armenier:innen soll das Augenmerk vor allem auf die deutsche Mitwisser- und Mittäterschaft gelegt werden. Trotz der im ersten Teil angesprochenen Unterstützung des Deutschen Reiches für Schutzmaßnahmen der armenischen Minderheiten im Osmanischen Reich bei der Berliner Konferenz 1878, trägt Deutschland die erheblichste Mitschuld an der Aghet, dem Völkermord an den Armenier:innen. – Ein Kommentar von Emanuel Checkerdemian.

    Die verbündeten Mittelmächte des 1. Weltkrieges (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich) deckten die grausamen Verbrechen der Jungtürken, unterbanden sie trotz zahlreicher Gelegenheiten nicht und waren als militärische Partnerinnen daran beteiligt, dass die türkische Mordmaschinerie aufrecht erhalten werden konnte.

    Das deutsch-türkische Bündnis zeigt auch in den darauffolgenden hundert Jahren bis zum heutigen Tage Kontinuität. Nazideutschland lieferte beispielsweise Gas an die Türkei, das 1937 zur Vernichtung von Kurd:innen eingesetzt wurde. Noch heute werden die barbarischen Verbrechen der Regierung Erdogans von der Bundesrepublik aktiv unterstützt. In diesem Text werden jedoch zunächst die Taten des Deutschen Kaiserreichs in Zusammenhang mit dem Völkermord im Zentrum stehen.

    Der deutsche Imperialismus und das Osmanische Reich

    Im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Reichsgründung 1871 stand die junge deutsche Nation, bzw. standen deren herrschenden Klassen in der beginnenden imperialistischen Konkurrenz vor einem Dilemma: Zwar hatte man erst im Krieg von 1870/1871 den „Erbfeind“ Frankreich geschlagen und erhebliche Gebietsgewinne in Elsass/Lothringen verzeichnet; in Folge dieses Krieges hatte man auch den ersten deutschen Nationalstaat gegründet. Dennoch stand man im internationalen Vergleich recht schwach da. Vor allem Großbritannien, aber in geringerem Maße auch Frankreich, war bereits im Besitz riesiger Kolonialgebiete und unterhielt ein „Weltreich“. Selbst die Niederlande verfügten über beachtliche „Besitztümer“ in Asien, während das Kaiserreich noch überhaupt keinen Kolonialbesitz verwaltete.

    Erst mit der Berliner Konferenz von 1884/1885 (nicht zu verwechseln mit dem Berliner Kongress 1878, siehe Teil I), bei der die „Aufteilung der Welt“ (Lenin) vollzogen wurde, konnte sich das Deutsche Reich Kolonialmacht nennen. Auf diplomatischem Weg bekam man Gebiete in Afrika, Asien und Ozeanien. Der Countdown zum 1. Weltkrieg war durch diese imperialistische „Teilungspolitik“ eingeläutet. Trotzdem war man im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien immer noch relativ schlecht aufgestellt. So war eine parallel zum Kolonialismus praktizierte Strategie, den Zuwachs der Einflussnahme im Osmanischen Reich, das sich damals noch vom Balkan über Arabien bis Nordafrika zog, zu verstärken; nicht als Kolonialmacht, aber im Interesse der deutsch-osmanischen Stärkung in der imperialistischen Konkurrenz. Dies bewerkstelligte Berlin vor allem mit dem Ausbau infrastruktureller Projekte, die Bagdad-Bahn sollte die deutsche Hauptstadt mit Bagdad verbinden und somit eine Möglichkeit des sicheren Rohstoff- und Truppentransports gewährleisten.

    Auch die militärische Kooperation wurde immer weiter vertieft, sodass deutsche Militärs (Berater etc.) sogar in den Dienst des Osmanischen Reichs gestellt wurden. 

    Hart, aber nützlich“: Deutsche Beteiligung an türkischen Verbrechen

    So war es folgerichtig, dass sich das deutsch-türkische Bündnis in den kommenden Jahrzehnten ausbaute und intensivierte und sich zu Beginn des 1. Weltkriegs zahllose Vertreter „deutscher Interessen“ im Osmanischen Reich aufhielten.

    Deutschland war von Anfang an unterrichtet über die Vorgänge zur Vernichtung der Armenier:innen. Zahlreiche offizielle Berichte und Dokumente von Militärattachés, Botschaftern und anderen Reichsvertretern belegen diese Mitwisserschaft. Die Proteste , die von Einzelpersonen schriftlich eingereicht wurden, wurden allerdings von höchsten Stellen unterdrückt. Auf ein Schreiben des Botschafters Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht entgegnete der damalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg beispielsweise: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.”

    Mit diplomatischen Mitteln und geringem Aufwand hätte das Deutsche Reich – als zentrale Kraft des Bündnisses der Mittelmächte – für eine weitgehende Eindämmung des Völkermordes sorgen können. Dennoch entschied man sich, den türkischen Vernichtungsinteressen nachzugeben, seine eigenen militärischen Interessen im Krieg mit den Entente-Mächten zu forcieren und den Genozid durch Ignoranz zu unterstützen.

    Teilweise ging dies soweit, dass Berichte über die Situation der Armenier:innen in der Presse zensiert wurden. Und mehr noch als das: Deutsche Militärs machten sich auch in direkter Tat mitschuldig. Waren die militärischen Beratungen ohnehin Routine – auch in Bezug auf die Organisation der Vernichtung der Armenier:innen – schickten deutsche Offiziere wie Wolffskeel von Reichenberg oder Böttrich nachgewiesenermaßen tausende Armenier:innen in den Tod.

    In den mit dem Osmanischen Reich betrauten Teilen des deutschen Heeres war man sich, mit wenigen Ausnahmen, einig, dass die Armenier:innen einen Destabilisierungsfaktor für die Türkei darstellten und (potenziell) mit dem russischen Feind kooperieren könnten. Die türkische Vernichtungspraxis wurde somit als „hart, aber nützlich“ (Humann) betrachtet. Nur wenige, vor allem christlich-deutsche Organisationen, nahmen dabei vor Ort eine oppositionelle Rolle zum deutschen Imperialismus ein. Hier kann vor allem der deutsche Theologe Johannes Lepsius genannt werden, der sich unermüdlich dafür einsetzte, türkische wie deutsche Militärführer zur Beendigung des Genozids zu bewegen und darüber hinaus große Leistungen für die Armenier:innen vollbrachte. Die Unterstützung Deutschlands für die türkischen Verbündeten blieb trotzdem bis zum Kriegsende und darüber hinaus ungebrochen.

    Berlin als Exil türkischer Massenmörder

    Nachdem der Krieg an allen Fronten verloren war und die siegreichen Entente-Mächte sich daran machten, mit der Neuaufteilung des ehemaligen Osmanischen Reiches auch die Hauptverbrecher der Aghet juristisch zu verfolgen, war es wieder Deutschland – inzwischen im Übergang zur Weimarer Republik befindlich – , das den alten Waffenbrüdern half. So konnte Talaat Pascha, einer der hauptverantwortlichen Täter des Genozids, in einem deutschen U-Boot flüchten und lebte in den darauffolgenden Jahren in Berlin.

    Auch weitere Hauptschuldige wie Enver Pascha, Cemal Pascha, Doktor Nazim, Bahaettin Şakir und Cemal Azmi waren in dieser Nacht an Bord und wurden von Deutschland evakuiert. Während sich mit Cemal und Enver Pascha zwei Drittel des ehemaligen Triumvirats daran machten, den Vernichtungskampf weiterzuführen, machte es sich Talaat mit deutscher Unterstützung in Charlottenburg gemütlich. Dort lebte er bis 1921 unter dem Schutz der deutschen Regierung und unter falschem Namen in der Hardenbergstraße – trotz internationalen Todesurteils.

    Erst die armenische „Operation Nemesis“, die es sich zur Aufgabe machte, die Täter der Aghet zur Rechenschaft zu ziehen, konnte dem Leben des Massenmörders Talaat Pascha in Person des Helden Soghomon Tehlirian ein Ende setzen. Paradoxerweise wurde er vor einem deutschen Schwurgericht freigesprochen.

    Es dauerte weitere 100 Jahre, bis sich Deutschland – inzwischen Bundesrepublik – zu einer Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen durchringen konnte. Die immer noch eng verbündete Türkei lehnt weiterhin jede Aufarbeitung ihrer Verbrechen ab. Im Gegenteil: die tradierte Leugnungsstrategie des vergangenen Jahrhunderts weicht immer mehr einer Rhetorik, die zu Ende bringen will, was die Großväter begonnen haben.

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