Ende 2022 hat der türkische Lieferdienst-Gigant „Getir“ den deutschen Konkurrenten „Gorillas“ für den Betrag von 1,2 Milliarden Dollar erworben. Doch der Expansionskurs aus der Corona-Zeit ist gescheitert. Betriebe werden geschlossen und Mitarbeiter:innen entlassen. – Wir sprachen mit Ali Krüger über die jüngsten Entwicklungen. Ali hat in Leipzig beim Lieferservice Gorillas gearbeitet. Er ist eine der 2.500 Personen, die in der Nacht vom 22. auf den 23. August ihre Arbeit verloren.
Hallo Ali! Also was genau ist passiert?
Gorillas wurde Ende 2022 an Getir verkauft. Ein größeres türkisches Unternehmen, das in der Türkei seit einigen Jahren schon etabliert ist – und das auch schon vor der Pandemie. In Deutschland sind viele Lieferdienste erst während der Pandemie groß geworden. Auf dem deutschen Markt war Getir vorher kaum etabliert, weil es schon Gorillas, Flink, und so weiter gab. Dann hat Getir Gorillas übernommen und sich dadurch mehr Marktmacht in Deutschland verschafft. In den letzten Monaten lief noch der Übergangsprozess. Doch in den letzten Wochen hat sich schon abgezeichnet, dass das Geschäft nicht gut lief: Wir haben immer weniger Bestellungen bekommen, teilweise haben Lieferanten nicht mehr geliefert. Dementsprechend haben die Leute auch noch weniger bestellt, weil wir zum Beispiel kein frisches Obst und Gemüse hatten. Letzte Woche kam dann die Nachricht, dass in 17 von 23 Städten Getir seine Standorte komplett schließt, und dazu gehört eben auch Leipzig. Konkret haben wir am 22. September 2023, einem Dienstagabend, über WhatsApp eine Rundnachricht bekommen, dass es wichtige Informationen zur weiteren Entwicklung der Firma gäbe. Alle wurden für Mittwochfrüh zu einem Treffen bestellt. Vor diesem Treffen haben wir jedoch aus der Presse schon entnehmen können, dass 2.500 Stellen gestrichen würden und dass auch Leipzig geschlossen werde. Und dann wurde uns auf dem Treffen mitgeteilt: „Gestern war euer letzter Arbeitstag“.
Wie habt ihr reagiert?
Es war ein Stück weit absehbar, aber gleichzeitig auch nicht. Ich glaube, kaum jemand hat wirklich damit gerechnet, dass in so großem Maßstab auch Lager geschlossen würden. Gorillas hatte drei Standorte in Leipzig. Wobei der eine im Westen schon vor ein paar Wochen geschlossen wurde. Dass es vielleicht noch weiter verkleinert wird, hätte, glaube ich, niemanden überrascht in dieser Situation. Aber so kam es schon sehr, sehr plötzlich. Es war natürlich ein Schock für viele, gesagt zu bekommen, dass man jetzt arbeitslos ist. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass es für viele nicht unbedingt ein so tiefer Einschnitt ist, weil sie wahrscheinlich sowieso nicht vorhatten, langfristig zu bleiben. Wir hatten immer viel Wechsel. Viele Leute sind aus verschiedenen Gründen nicht allzu lange dageblieben. Manche Leute haben gemerkt, dass das Ganze nicht ihr Ding ist, und andere wollten den Job nicht machen, weil sie gemerkt haben, dass er zum Beispiel für Fahrer:innen körperlich sehr anstrengend ist. Grade, weil man bei jedem Wetter draußen ist. Es wurden auch immer wieder Leute entlassen und es gab Probleme, da teilweise der Lohn nicht pünktlich oder korrekt ausgezahlt wurde. Soweit ich weiß, gibt es immer noch Leute mit ausstehenden Lohnforderungen. Ich weiß von einer Person, der noch Krankengeld fehlt, aber es gab immer Leute, die nicht korrekt bezahlt wurden. Manche hatten sich der Firma verschrieben und haben alles gegeben. Doch viele haben es schwer, woanders einen Job zu finden. Und dann ist da natürlich Druck, wenn man weiß, man kriegt noch bis Ende September seinen Lohn ausgezahlt und danach muss man irgendwie etwas Neues haben. Zum Teil wurden Leute – ich weiß von zwei Mitarbeiter:innen – kurz vorher noch entlassen, weil deren Probezeit von sechs Monaten gerade zu Ende gegangen war, die stehen dann natürlich ohne irgendwas da. Diejenigen, die länger dabei waren, bekommen zusätzlich zum Lohn noch eine Abfindung ausgezahlt. Die ist abhängig von der Länge der Betriebszugehörigkeit. Und wie gesagt, es waren relativ wenig Leute schon lange dabei. Was man dazu sagen muss, ist, dass, auch wenn wir den Lohn bis Ende September weiter bezahlt bekommen, zumindest die Fahrer:innen weniger Geld zur Verfügung haben als normal. Weil die Trinkgelder wegfallen, die sonst auf jeden Fall einen Unterschied machen. Es gibt auch keine Bonusgelder mehr.
Derzeit werden bei vielen Lieferdiensten die Leute entlassen. Meist unter dem Radar der Öffentlichkeit. Was denkst du, wie man diese Massenentlassungen skandalisieren kann?
Ich denke, was viel Aufmerksamkeit darauf gerichtet hat, waren damals in Berlin die wilden Streiks. Wo man dazu sagen muss, dass es für diejenigen Leute, die daran beteiligt waren, teilweise nicht so gute Konsequenzen hatte. Es wurden viele gekündigt, und die Kündigung wurde dann vom Gericht noch mal bestätigt, weil es wilde Streiks waren und das deutsche Arbeitsrecht das eben so sieht. Ich glaube, eine positive Entwicklung ist, dass es bei Getir einen bundesweiten Betriebsrat gibt. Gorillas hat lange versucht zu verhindern, dass Betriebsräte gegründet werden. Und soweit ich das mitbekommen habe, hat der Betriebsrat auch durchaus ein bisschen was erreicht, wie zum Beispiel bezahlte Feiertage, was wir vorher nicht hatten. Die Arbeit des Betriebsrats habe ich daher positiv wahrgenommen. Aber vieles spielt sich natürlich auch hinter den Kulissen ab. Ich habe keine Ahnung, inwiefern der Betriebsrat bei den Kündigungen und Schließungen involviert war und ob er hätte mehr machen können oder schon alles getan hat.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Dass die Mitarbeitenden, grade auch die auf unterster Ebene, mehr in den Fokus gerückt werden und dass deren Lebensrealität berücksichtigt wird. Wenn es zum Beispiel darum geht, Menschen zu entlassen, dass das möglichst frühzeitig kommuniziert wird. Grade, weil sehr viele Menschen in dem Bereich arbeiten, die sonst nicht unbedingt gute Jobaussichten haben. Menschen, die keinen deutschen Pass haben und vielleicht auch nicht so gute Deutschkenntnisse, die dadurch so einen Job gut ausüben können, aber wo anders vielleicht durch ihren Aufenthaltsstatus sofort im Bewerbungsprozess aussortiert würden. Ich weiß nicht, wann die Entscheidung getroffen wurde, den Standort in Leipzig komplett zu schließen, doch der Entschluss fiel sicherlich nicht erst spontan in der Woche. Ich hätte erwartet, dass man uns so früh wie möglich Bescheid sagt. Selbst in der Woche vorher wurde immer noch so kommuniziert, als gäbe es weitere Pläne. Uns wurde gesagt: „Nächste Woche kommt jemand, um zu gucken, wie das Warehouse läuft. Da muss alles top sein“. In Wirklichkeit wurde das Warehouse dann aber geschlossen. Insofern finde ich es unfair, dass uns aktiv vorgegaukelt wurde, dass der Betrieb eine Zukunft hat. Die Kommunikation war oft unstrukturiert und unübersichtlich. Sie verlief manchmal über E-Mail oder WhatsApp oder die Vorgesetzten vor Ort. Für mich war oft nicht nachvollziehbar, wo neue Informationen oder Regelungen ihren Ursprung hatten.
Möchtest du noch etwas ergänzen?
Was, glaube ich, schon passiert, ist, dass Leute sich miteinander austauschen und ihr Wissen teilen, wenn es um Fragen geht wie: Wo kann man einen neuen Job finden? Wie sieht’s aus mit Sozialleistungen? Wo kann man die beantragen? Wer hat Anspruch? Es gab teilweise gemeinsames Mitarbeitergrillen. Es war immer ein sehr starkes Gemeinschaftsgefühl und es gab viele schöne zwischenmenschliche Interaktionen. Das ist natürlich auch etwas, was verloren geht, wenn der Betrieb schließt.
Auf Nachfrage von Perspektive Online war Getir nicht zu einer Stellungnahme bereit.