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Montag, April 29, 2024
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    Rojava: Ein Bollwerk des Widerstands zwischen Besatzung und Bombenhagel

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    Rojava ist wieder unter schwerem Beschuss. Der türkische Staat versucht zielgerichtet, die zivile Infrastruktur nachhaltig zu zerstören und das Gebiet zu isolieren. Der türkische Außenminister Hakan Fidan rechtfertigte die militärischen Angriffe mit dem Ziel der vorgeblichen Terrorbekämpfung, verursacht durch die jüngsten Anschläge der PKK auf das türkische Innenministerium. – Ein Kommentar von Esther Zaim.

    Der seit Jahrzehnten anhaltende Befreiungskampf der Selbstverteidigungskräfte in den besetzten kurdischen Gebieten ist gekennzeichnet von schweren militärischen Angriffen der türkischen Regierung. Am 9. Oktober 2019 wurde die selbstverwaltete autonome Region Rojava – wie bereits in den vorangegangenen Jahren im Oktober 2017 und auch im Januar 2018 mit der „Operation Olivenzweig“ (türkisch: Zeytin Dalı Harekâtı) mit dem Ziel , eine sogenannte Sicherheitszone zu errichten –  erneut Schauplatz eines erneuten völkerrechtswidrigen Großangriffs des türkischen Militärs. Dem voraus gegangen war der einige Tage zuvor erfolgte Abzug der US-Truppen aus der Region, die dort seit 2015 gegen IS-Einheiten Stellung bezogen hatten, was der türkischen Militärinvasion Tür und Tor öffnete.

    Nicht erst seit der Ausrufung der “Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien” (Rojava) im Jahre 2016 ist das mehrheitlich kurdisch besiedelte Gebiet ein Konfliktherd und erbitterte Kampfzone. Für eine vertiefte chronologische Betrachtung muss bereits bei dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 begonnen werden.

    Die Anfänge kurdischen Widerstands

    Mit dem Arabischen Frühling 2011 erstarkten auch in Syrien die zivilen Proteste gegen das autokratische Assad-Regime und machten auf die ernsthafte Bedrohungslage für etliche Bevölkerungsteile durch islamistische Terrororganisationen aufmerksam. Zu den bekanntesten und mächtigsten Vertretern dieser Gruppierungen avancierte der Islamische Staat (IS) und überzog die Region mit einer Welle des systematischen Terrors und der Kriegstaktik eines Völkermords. Im Zuge dieser immer weiteren Eskalations- und Bedrohungsszenarien formierten die bereits in der Region vertretenen kurdischen Verteidigungseinheiten lokale Milizinnen und Milizen zum Schutz der Kriegsvertrieben – zu einem großen Anteil wehrlose Frauen und Kinder.

    Der Beginn des Konflikts um Kurdistan ist dabei bereits im frühen 20. Jahrhundert zu verorten und ist eng mit dem Osmanischen Reich und der Gründung des türkischen Nationalstaats 1923 verwoben. Dabei stand die Harmonisierung der vermeintlich türkischen Bevölkerung und die Assimilierung ethnischer Minderheiten in den neuen türkischen Staat im Vordergrund. Widerständige Minderheiten hatten, wie am Beispiel der armenischen Bevölkerung, Vertreibung und Genozid zu erleiden.

    Diese Mechanismen dienten vor allem den bereits angelegten türkischen Herrschaftseliten und hatten die kapitalistische Aneignung von Eigentum und die imperialistische Einverleibung von großen Landesteilen der Vertriebenen und Ermordeten zum Ziel. Spätestens seit diesem Zeitpunkt kämpft die kurdische Bevölkerung in ihrer existentiellen Unterdrückungsgeschichte um den Erhalt ihrer Identität, ihrer Sprache, ihres Lebensraums und gegen den staatlich ausgeübten und gesellschaftlich stark verbreiteten antikurdischen Rassismus –  und das trotz der fadenscheinigen Minderheitenschutzgesetze des türkischen Staats.

    Die Bewunderung hat Grenzen

    Ab dem Sommer 2014 erreichte der IS-Terror mit dem Völkermord an den Jesid:innen im Shingal seinen Höhepunkt. Die dschihadistische Miliz eroberte stetig weitere Gebiete in Syrien und im Irak, dabei vertrieb und massakrierte sie mehrere zehntausend Menschen. Die kurdischen Verteidigungseinheiten wiederum erhielten trotz ihrer verlustreichen Gefechte durch ihre entschlossene Kampfbereitschaft gegen die IS-Milizen und ihren Schutz der lokalen Bevölkerung rund um die hart umkämpfte Stadt Kobanê in Rojava vorübergehend internationale Anerkennung und Zustimmung. Diese heroisierenden Bekundungen hatten jedoch nur eine begrenzte Lebensdauer innerhalb der imperialistischen Weltpolitik. Ihre geduldeten Grenzen wurden spätestens überschritten, als es um den eigentlichen antiimperialistischen Charakter und das ihm innewohnende revolutionäre Profil der demokratisch-selbstverwalteten Zone ging.

    Der türkische Staat akzeptiert bis in die Gegenwart hinein das autonom verwaltete Gebiet Rojava unter keinen Umständen und hat nachweisbar eine tiefe Komplizenschaft und politische Allianz mit dem dschihadistischen Islamischen Staat und anderen islamistischen Gruppierungen geschmiedet. Durch regelmäßige Luft- und Artillerieangriffe versucht die türkische AKP-Regierung, die lokale Infrastruktur Rojavas langfristig zu schädigen, Versorgungsrouten abzuschneiden und die Bevölkerung in permanenten repressiven Drohkulissen gefangen zu halten. Die jüngsten Bombardements der letzten Tage auf Rojava lassen erneut den ungezügelten Eskalationswillen der türkischen Regierung erkennen, sie sind durch ihre Regelmäßigkeit ein immer wiederkehrendes Leid für die Menschen der Region. Viele Dörfer beklagen wieder Tote und Schwerverletzte, stehen vor dem Ruin ihrer selbstgebauten Häuser und landwirtschaftlichen Flächen, die noch nicht einmal die Chance hatten, sich von vergangenen Attacken erholen zu können.

    Aus losem Widerstand wird organisierter Aufbau

    Rojava ist seit den revolutionären Anfängen vor zehn Jahren unablässig mit dem Aufbau einer gefestigten Räte-Struktur beschäftigt, mit dem Bestreben um die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Bevölkerung. Dabei ist seine autonome Administration politisch, wirtschaftlich und geografisch zwischen den Regierungen der Machtpolitiker Erdoğan und Assad eingekesselt, deren autokratische Herrschaftssysteme eine gelebte kurdische Autonomie niemals akzeptieren werden.

    Rojavas Entwurf des aktiven Aufbaus einer antikapitalistischen und antiimperialistischen Gesellschaftsstruktur, wie auch dem Erhalt der damit verbundenen revolutionären Symbolkraft steht die brutale Realität der eigenen Finanzierung entgegen und stellt oftmals einen notgedrungenen ideologischen Widerspruch dar. Das macht sich z.B. an den Strategien ihres Handels mit Erdöl und seinem notwendigen Verkauf an das erdölverarbeitende Großkapital zum Erhalt des eigenen Haushalts bemerkbar. Wenngleich trotzdem ein kooperativ geführtes und nicht-profitorientiertes Wirtschaftssystem auf lokaler Ebene weiterhin einen streng verfolgten und bereits teilweise real umgesetzten Leitsatz darstellt – zumindest gemäß dem multiethnischen, feministischen und ökologischen Gesellschaftsvertrag von Rojava.

    Türkei bombardiert – Deutschland finanziert!

    Die staatlich inszenierte Kriegspropaganda in den türkischen Großmedien kennt in ihrem manipulativen Vorgehen hingegen keine Grenzen und ist um keine Falschmeldung oder der Reproduktion rassistischer Vorbehalte verlegen. Unmittelbar nach den schweren militärischen Anschlägen gab das türkische Verteidigungsministerium (türkisch: T.C. Millî Savunma Bakanlığı) eine patriotisch-nationalistische Erklärung mit der Überschrift „weiter mit unseren eisernen Klauen“ auf der Online-Plattform X (ehemals twitter) ab. In ihr verkündete sie, dass „die türkischen Streitkräfte, welche aus dem edlen Schoß des türkischen Volkes hervorgegangen sind mit großer Hingabe und Entschlossenheit in der Vergangenheit, wie auch in der Gegenwart die Sicherheit von Land und Nation wahren und vor dem Terrorismus schützen wird und darum kämpft bis jeder Terrorist vernichtet ist. Während dieser Operation wurden alle Arten von Maßnahmen ergriffen um zivile Personen, verbündete Elemente, historisches und kulturelles Erbe, wie auch die Umwelt zu schützen.“

    Die Abstände der türkischen Flächenbombardements folgen einer jährlich getakteten Regelmäßigkeit und zerstören Standorte der Strom-und Kraftstoffproduktion wie auch medizinische Einrichtungen und Bildungsinstitutionen. Der Tod oder schwere Verletzungen von Zivilist:innen, humanitären Helfer:innen und Journalist:innen werden dabei vorsätzlich als Kollateralschäden in Kauf genommen. Staatliche Medien veröffentlichen dabei die Aufnahmen der Bordkameras der türkischen Kampfjets und Drohnen, welche die massive Zerstörung ihrer Ziele zur Schau stellen und der Öffentlichkeit das Narrativ unterbreiten, einen ebenbürtigen Gegner zu bekämpfen.

    Diese völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen werden strategisch durch die inszenierte Bedrohungslage für die türkische Bevölkerung medial legitimiert. Die Rolle der deutschen Bundesregierung ist in der amtierenden Ampelkoalition, wie auch schon bei ihren Vorgängern, eher durch die Vertiefung der diplomatischen Beziehungen zur türkischen AKP-Regierung gekennzeichnet, als von klarer Abgrenzung und Sanktionierung. Dass die EU in die strategischen Angriffskriege der Türkei auf kurdische Gebiete nicht interveniert, hat seinen Ursprung im 2016 geschlossenen EU-Türkei-Abkommen: er ist für die türkische Staatsregierung ein lukrativer Milliardendeal, für den das Erdoğan-Regime die Migrationsbewegungen für die EU – in deren Interesse einer Abschottung vor Geflüchteten – reglementiert und zurückhält.

    Rojava – ein Ort der aufkeimenden Hoffnung

    Trotz der wiederkehrenden Katastrophen und Krisen, die die Region erleidet, hat die kurdische Befreiungsbewegung eine besondere revolutionäre Dimension erreicht. Ihr Potenzial, eine Massenmobilisierung zu gestalten, und die Kraft, mit der sie ihren Widerstand trotz härtester Repression und gegen faschistische Regierungen und deren Angriffe aufrecht erhält, ist nicht mehr zu übersehen. Sie dient internationalen revolutionär-sozialistischen Kräften als Inspiration und Vorbild und hat unmittelbare Verknüpfungen zu globalen Befreiungskämpfen – ob gegen das Patriarchat oder für die Umwelt.

    Denn was bedeutet gelebte internationale Solidarität? Sie bedeutet, revolutionäre und antikapitalistische Kämpfe international so zu verbinden, dass sie letzlich die Zerschlagung von Faschismus und Patriarchat erreichen.

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