Am 20. November ist der “Tag gegen transfeindliche Gewalt”. In Anbetracht steigender Angriffe auf trans, inter und nicht-binäre Personen zeigt sich: queere Menschen müssen selbst für ihre Befreiung kämpfen. – Ein Kommentar von Michael Koberstein.
Mit dem am 20. November stattfindenden “Tag gegen transfeindliche Gewalt” (auch: “Trans Day of Remembrance”) wird jährlich der getöteten trans Menschen gedacht. Gründe, um an diesem Tag auf die Straße zu gehen, gibt es viele: Der tödliche Angriff auf den trans Mann Malte C. nach dem CSD in Münster letztes Jahr brachte viel Trauer, Bestürzung und Wut, nicht nur in der LGBTI+- Community. Tausende kamen auf die Gedenk-Kundgebung in Münster, und auch in anderen Städten fanden Demos und Kundgebungen statt.
Ungefähr ein halbes Jahr später wurde in England die 16-jährige trans Frau Brianna Ghey brutal in einem Park erstochen. Diese beiden Fälle sind nur ein kleiner Ausschnitt von Morden an trans Personen aus diesem und dem letzten Jahr, die besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben – Einzelfälle sind sie bei weitem nicht.
Trans- und queerfeindliche Gewalt international
Laut dem Bericht “Trans Murder Monitoring“, herausgegeben vom Netzwerk “Transgender Europe”, wurden bis Anfang November 2023 weltweit 320 trans und gender-diverse Menschen ermordet. Der Report wird jährlich seit 2008 herausgegeben und hat in dieser Zeit mehr als 4.600 Morde aufgelistet. Besonders auffällig ist dieses Mal, dass 80% der Ermordeten von Rassismus betroffen und viele von ihnen Sexarbeiter:innen waren. So kam es z.B. in den USA allein diesen Oktober zu Morden an sechs schwarzen trans Personen. Das Epizentrum ist aber Brasilien: 31% der gelisteten Tode fanden dort statt.
2021 war mit 375 Ermordeten bisher der zahlenmäßige Höhepunkt. Ob dieses Jahr ein neuer Höchstwert erreicht wird, bleibt noch abzuwarten, denn über die letzten Jahre zeigt sich insgesamt ein aufsteigender Trend. Trans- und queerfeindliche Gewalt wird also weltweit begangen und hat in den letzten Jahren zugenommen. So weit, so schlecht.
Transfeindlichkeit hat seine Wurzeln in der Kleinfamilie
Wenn sich fortschrittlich gebende Politiker:innen queerfeindliche Gewalt verurteilen, wird meistens sehr vage „der Hass“ und „die Intoleranz“ der Täter:innen verurteilt. Aber wenn wir ergründen wollen, woher die Gewalt kommt, um hiergegen Lösungen zu finden, reicht es nicht, sich die individuellen Motive der Täter:innen anzuschauen. Dann kann man nämlich nicht viel mehr tun, als sie moralisch zu verurteilen.
Wir müssen uns anschauen, welche Funktionen Familie, Geschlecht und Sexualität in der Gesellschaft haben. Unser vorherrschendes Familiensystem ist die klassische bürgerliche Kleinfamilie – Vater, Mutter, Kind. Der Vater ist dabei sowohl wirtschaftlich als auch sozial der privilegierte Teil. Das wird dadurch möglich, dass überwiegend die Frau – unbezahlt – den Haushalt macht, die Kinder erzieht oder Angehörige pflegt. Das alles sind Tätigkeiten, die essenziell dafür sind, dass das gesellschaftliche Zusammenleben weiter läuft und die Menschen weiter ihrer täglichen Lohnarbeit nachgehen können.
Die Familie ist also eine substantielle ökonomische Einheit für die Aufrechterhaltung des Systems. Wie passen nun Menschen dort rein, die nicht “cis” sind oder eine andere sexuelle Orientierung haben? Nun, nicht sehr gut. Von dem binären Geschlechtersystem abweichende Geschlechtsidentitäten stellen das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihrer Arbeitsteilung in Frage. Darum müssen sie also verneint und verteufelt werden.
Diversität einerseits – reaktionäre Hetze andererseits
Seit sich in Stonewall 1969 queere Menschen militant gegen die Polizei und ihre Schikanen zur Wehr gesetzt haben, ist viel passiert. Vor allem im Bereich der sexuellen Befreiung wurden sich viele Rechte erkämpft. Heute ist es in vielen westlichen Ländern wie Deutschland leichter möglich, offen homosexuelle Beziehungen zu haben. Das haben auch die Kapitalist:innen gemerkt und versuchen, den Eindruck einer liberalen Gesellschaft zu erwecken.
Selbst Vertreter:innen der herrschenden Klasse wie Jens Spahn sind offen schwul. Die „Ehe für alle“ lässt homosexuelle Beziehungen zu – aber nur im Rahmen der bürgerlichen Ehe. Mit gewissen Reformen hat in Deutschland die Ampel-Regierung einige Zugeständnisse an LGBTI+-Menschen gemacht. Das neue „Selbstbestimmungsgesetz“ ist aber immer noch begrenzt. Die selbstgeschriebenen Hausregeln von Läden oder Restaurants können Menschen z.B. ausschließen, und im Kriegsfall spielt weiterhin nur das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht eine Rolle.
Gleichzeitig profitieren Kapitalist:innen doppelt von der größeren LGBTI+-Akzeptanz: einerseits können Unternehmen im Juni ihr Image mit regenbogenfarben „inklusiv“ oder „divers“ gestalten. Andererseits lässt sich mit reaktionärer Hetze gut verdienen, bei der insbesondere trans Menschen gegenwärtig als gesellschaftliche Bedrohung dargestellt werden. Die hohe Anzahl an ermordeten schwarzen trans Personen zeigt außerdem, dass sich die eine Unterdrückungsform oft mit einer anderen überschneidet – dem Rassismus.
Selbstschutz organisieren – Rechte erkämpfen
Die Situation offenbart uns, dass der Kapitalismus und das Patriarchat ihre Transfeindlichkeit nicht loswerden können. Sie sind geradezu die Grundlage dafür. Die bisherigen Fortschritte sind ein Zeichen für die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus einerseits und für die Möglichkeiten starker sozialer Bewegungen andererseits. Sie gibt es nicht wegen, sondern trotz des Kapitalismus.
Für klassenkämpferische Bewegungen stellt sich deswegen die Aufgabe, trans Menschen einen Platz zu bieten und den Selbstschutz von trans Menschen zu organisieren. Das bedeutet, ihre Unterdrückung nicht von anderen Teilen des Klassenkampfs zu trennen, sondern klarzustellen, dass Widerstand gegen transfeindliche Gewalt ein Teil des Klassenkampfs ist. Der 20. November sollte also nicht nur ein Zeitpunkt der Trauer und des Gedenkens sein, sondern ein Tag, an dem wir unsere Wut demonstrativ im Kampf gegen Kapitalismus und Patriarchat auf die Straße bringen.