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Freitag, April 26, 2024
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    Armenien am Abgrund?! – Die Lage der Armenier:innen ist besorgniserregend

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    Rund drei Wochen ist es nun her, dass der Angriffskrieg der aserbaidschanisch-türkischen Koalition gegen die armenische Republik Artsakh vorerst abrupt beendet wurde. Mit der russischen Intervention zu Ungunsten der Armenier:innen haben die militärischen Auseinandersetzungen ein jähes Ende gefunden. Die Folge ist ein neuer Status Quo im nach wie vor nicht gelösten Konflikt um die Bergkarabach-Region. Die armenische Seite hat – über tausend Tote und massive Gebietsverluste hinaus – mit dieser Niederlage vor allem eine sehr instabile politische Lage zu beklagen. – Ein Kommentar von Emanuel Checkerdemian

    Die armenische Lage

    Kurz nach der Bekanntgabe des neuen Waffenstillstandsabkommens für die Bergkarabach-Region gehen in der armenischen Hauptstadt Yerevan tausende wütende Demonstrant:innen auf die Straße. Sie wollen das Abkommen, das einer Niederlage gleichkommt, nicht akzeptieren und stürmen Regierungs- und Parlamentsgebäude. Es kommt zu blutigen Szenen und man fordert die Köpfe von Ministerpräsident Nikol Pashinyan und anderen Regierungsvertreter:innen, die man verantwortlich macht. Schnell wird deutlich, dass für diese Proteste vornehmlich Anhänger:innen des alten und korrupten Regimes verantwortlich zeichnen. Reaktionäre Kräfte, Profiteure des oligarchischen Systems und rechtsradikale Kleinstparteien sahen in der Kriegsniederlage den Moment gekommen, sich und das Land der bürgerlich-liberalen Errungenschaften der sogenannten „Samtenen Revolution“ zu entledigen. Und so demonstrierten in den darauf folgenden Tagen Tausende gegen die Regierung. Am 14. November nahm der Nationale Sicherheitsdienst (NSS) dann mehrere Personen fest, die einen Anschlag auf den Ministerpräsidenten geplant haben sollen. Unter ihnen der ehemalige Vorsitzende der Partei des alten Regimes (HHK), der alte Chef des Geheimdienstes NSS, sowie ein Mitglied der faschistischen Adekvad-Bewegung.

    Insgesamt 17 Parteien – natürlich nicht alle im Lager des ehemaligen Regimes – fordern inzwischen den Rücktritt des Ministerpräsidenten Nikol Pashinyan und vorgezogene Neuwahlen, so auch der Präsident des Landes, Armen Sargsyan. Und tatsächlich gibt es gute Gründe, Kritik am Management der Kaghakaziakan Pajmanagir (KP), der regierenden Partei von Pashinyan, zu üben.

    Die Abkehr vom russlandtreuen Weg des alten Regimes und die damit einhergehende Öffnung zum westlichen Imperialismus haben keinerlei nennenswerte materielle Verbesserungen für die arbeitenden Klassen zur Folge gehabt. Die Corona-Zahlen im Land sind verheerend. Über 130.000 Menschen haben sich bereits infiziert, über 2.000 sind schon gestorben – das in einem Land mit rund drei Millionen Einwohner:innen.

    Und auch die Propaganda während des Krieges, welche die Möglichkeit einer Kriegsniederlage überhaupt nicht zuließ, muss deutlich benannt werden. In der armenischen Öffentlichkeit waren die Ereignisse dieses 9. Novembers tatsächlich unerwartet. Nicht, weil man sich der militärischen Überlegenheit der aserbaidschanisch-türkischen Koalition nicht bewusst war, sondern, weil die Verantwortlichen in den Wochen davor dennoch eine „Siegermentalität“ an den Tag legten, die vollkommen realitätsfremd war. An dieser Stelle muss aber darüber hinaus betont werden, dass die Schwäche der armenischen Verteidigungskräfte maßgeblich auf die korrupte Politik des alten Regimes zurückzuführen ist. Es war nahezu unmöglich, diesen Diebstahl (so muss man das wirklich nennen) in den zwei Jahren der Amtszeit Pashinyans auszugleichen.

    Und so steht am Ende dieses militärischen Überfalls ein neues Kapitel des generationenübergreifenden Traumas der Armenier:innen. Denn auch die nächste Generation nach dem Krieg von 1991-1994 hat nun miterlebt, was dieser Krieg bedeutet, was es heiß, kämpfen zu müssen, Freund:innen zu verlieren und verwundet oder gar getötet zu werden. Und nicht zuletzt wurde damit auch die Angst vor der totalen Vernichtung der Armenier:innen wieder befeuert. Eine Angst, die sich durch alle armenische Generationen der Moderne zieht, die einzig in der Sicherheit einer Armenischen SSR (Armenische Sozialistische Sowjetrepublik) und der Sowjetunion beruhigt werden konnte.

    Der Terror nach dem Krieg

    Die türkischen und aserbaidschanischen Faschist:innen mitsamt ihren djihadistischen Söldnern tun alles dafür, diese Angst weiter zu schüren. Das Ende der militärischen Auseinandersetzungen stellt den Beginn der Auslöschung der armenischen Kulturstätten dar. Die Verbrechen gegen Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung gehen dabei genauso weiter, wie sie schon während der militärischen Auseinandersetzungen stattfanden.

    So verifizieren mehrere Beobachtungsstellen die Echtheit von Videos, in denen Armenier:innen enthauptet oder einem alten Mann bei lebendigem Leib die Ohren abgeschnitten werden. Auch die Zerstörung von Kirchen und Kulturstätten sowie Grabschändungen werden – auch von aserbaidschanischer Seite selbst – genauestens dokumentiert. Mit der Übergabe von 121 armenischen Ortschaften an die aserbaidschanischen Besatzer wird dieses Vorgehen weiter intensiviert werden. Zahllose weitere Videos zeigen aserbaidschanische Soldaten, die armenische Kriegsgefangene demütigen, malträtieren und foltern.

    Unterschiedliche Reaktionen im Ausland

    Russland, das ja wie geschildert einen erheblichen Anteil an der jetzigen Situation hat, gebart sich weiterhin als Schutzmacht und Friedensstifter der Region. So soll sich nun Putin – wohl persönlich – für die Freilassung der Kriegsgefangenen einsetzen. Auch eine 2.000 Personen umfassende „Friedenstruppe“ wurde stationiert, die u.a. die Überwachung des Klosters Dadivank sowie der noch verbliebenen armenischen Gebiete gewährleisten soll. Und viele Armenier:innen, gerade aus der Republik Artsakh, scheinen darauf auch zu vertrauen – oder eben keine andere Alternativen zu sehen. So kehrten am vergangenen Samstag 2.100 Menschen in ihre Heimat Stepanakert zurück.

    Die russische Strategie im Konflikt um die Bergkarabach-Region wird dabei sehr deutlich. Man hat die Armenier:innen für die sogenannte „Samtene Revolution“ abgestraft, man hat ihnen klar gemacht, dass eine gesellschaftliche Transformation nicht akzeptiert wird, dass, wer sich von Putins Moskau abwendet, sich selbst und den militärischen Feinden überlassen wird. Diese „Lektion“ habe man nach eigenem Ermessen wohl erfolgreich vermittelt, sodass nun ein erheblicher russischer Einflussgewinn in der Region verbucht werden kann.

    In Frankreich hat man hingegen – da man ohnehin schon im offenen Konflikt mit der Türkei ist – erhebliche diplomatische und humanitäre Schritte gemacht. So votierte der französische Senat mit 305 zu einer Stimme für eine Resolution (verfasst von Politiker:innen fast aller im Parlament vertretenen Parteien – Rassemblement National war nicht beteiligt), die weitgehende rechtliche Folgen haben dürfte: Nicht nur, dass man die Haupttäterschaft der Türkei im Angriffskrieg gegen die Republik Artsakh benennt und Untersuchungen dazu einleiten möchte. Auch fordert man den Rückzug der aserbaidschanischen Truppen und die Einhaltung der Grenzziehung von 1994. Der wichtigste Punkt ist zu guter Letzt die Anerkennung der Republik Artsakh! In Frankreich leben – nach Armenien, Russland und den USA – die meisten Armenier:innen, rund 600.000. Das türkische Parlament tobte – wegen dieser Resolution.

    Der deutsche Bundestag hat, während er seinen Handelspartner:innen Türkei und Aserbaidschan bei Kriegsverbrechen zuschaut, andersherum einen Antrag von CDU/CSU und SPD angenommen, der von Geschichtsrevisionismus und Täter-Opfer-Umkehr nur so strotzt: Dort wirft man UN und OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) vor, nur zugeschaut zu haben, verbreitet die geschichtsverfälschende Lüge von „völkerrechtswidrig von Armenien besetzten Gebieten“, schwadroniert von jahrhundertealten muslimischen Kulturstätten, die zerstört worden seien (außer der Bundesregierung weiß davon niemand) und fordert, dass die Menschen sich über die staatlichen Trennlinien doch besser mal kennen lernen sollten, um Vorurteile abzubauen. Eine perfide Politik, die ganz offen zugibt, dass man in Berlin auf Seiten der Aggressor:innen steht. Auch wenn man der Form halber zwei kritische Sätze über die Türkei eingebaut hat.

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