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Montag, April 29, 2024
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    Prozess gegen mutmaßliche DHKPC-Mitglieder beginnt in Düsseldorf – mit Soli-Gesängen und isolierten Angeklagten

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    Nach fast einem Jahrzehnt Überwachung begann gestern in Düsseldorf der Prozess gegen die drei rkischen Antifaschist:innen Özgül Emre, Ihsan Cibelik und Serkan Küpeli. Ihnen wird vorgeworfen, für die linke türkische Organisation DHKP-C in Deutschland politisch führend aktiv gewesen zu sein. Vor den Augen von rund 80 Zuschauer:innen vollzieht sich ein konfliktreicher Prozess. – Ein Bericht der Perspektive-Korrespondentin Tabea Karlo aus dem Gerichtssaal.

    Im Mai letzten Jahres wurden die drei türkischstämmigen Antifaschist:innen Özgül Emre, Ihsan Cibelik und Serkan Küpeli verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen Teil der türkischen “Devrimci Halk Kurtuluş Partisi-Cephesi” (DHKP-C) (Deutsch: “Volksbefreiungspartei/-front”) zu sein, die in der Türkei bewaffnet gegen die faschistische Diktatur kämpft. Die Organisation ist in Deutschland verboten. Sie wird als Nachfolgeorganisation der in Deutschland bereits 1983 verbotenen “Devrimci Sol” (Revolutionäre Linke) angesehen.

    Die Anklage der Generalbundesanwalts vom 22. Dezember 2022 wurde erst jetzt – nach mehr als fünf Monaten – am 1. Juni 2023 durch den Staatsschutzsenat zugelassen. Die Anklage lautet auf Mitgliedschaft in einer “ausländischen terroristischen Vereinigung” nach Paragraph 129b des Strafgesetzbuchs.

    Bisher sitzen die drei Angeklagten unter besonders schweren Bedingungen in Untersuchungshaft. Teilweise sind sie 23 Stunden des Tages isoliert. Zudem gibt es eine Kontrolle der Post, die sie erhalten, wie ein Anwalt von Serkan Küpeli später anprangert. Besuche und Gespräche mit der Ehefrau und dem damals neugeborenen Sohn sind nur selten möglich.

    Prozessbeginn und verbotenes Singen

    Am Mittwoch begann nun der Prozess gegen die drei Angeklagten in Düsseldorf, der von Perspektive beobachtet wurde. Im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts sitzen die drei Angeklagten hinter einer massiven Glasscheibe, die sie von ihren Verteidiger:innen und dem Rest der rund 80 Prozessbesucher:innen trennt. Sie sind stets umgeben von jeweils zwei Polizisten. Um diese Frage wird sich ein Großteil des ersten Prozesstags drehen.

    Mit rund anderthalb Stunden Verspätung beginnt der Prozess, die Besucher:innen fließen in den Raum. Viele verstehen sich als “Genoss:innen” der Angeklagten, sie sind zur Unterstützung gekommen. Darunter sind auch zwei Frauen, die sich seit Wochen mit einem Hungerstreik für die Freilassung der Angeklagten einsetzen.

    “Ich bin seit über 80 Tagen im unbefristeten Hungerstreik gegen die Paragraphen 129,129a und 129b”

    Sie tragen trotz des Verbots politischer Zeichen Solidaritäts-Shirts. Während sich die Reihen langsam, aber stetig füllen, durchdringen türkische Solidaritätsgesänge den Saal, immer wieder werden Parolen angestimmt, es wird gewunken. Nach wenigen Minuten unterbrechen die anwesenden Wachtmeister:innen das Ganze harsch.

    Trennscheibe für Marxisten-Leninisten, für Faschistinnen nicht?

    Der Prozess beginnt nach der Vereidigung der Übersetzer:innen. Der Vorstellung des Senats und der Staatsanwaltschaft nach sollen die Personalien der Angeklagten aufgenommen und im Anschluss die Anklageschrift vorgelesen werden. Es kommt zum ersten Disput – die Verteidiger:innenseite fordert, zunächst über die Aufhebung der Trennscheibe im Gerichtssaal zu verhandeln. Das habe man ihnen in den Vorgesprächen zugesagt.

    Es ergeht ein Senatsbeschluss, wonach die Antragstellung und Verhandlung dieses Punkts auf die Phase nach Aufnahme der Personalien verschoben wird – so versteht es die Verteidiger:innenseite. Der Senat und die Staatsanwaltschaft werden später sagen, dass sie diese Frage erst nach allen Formalia – also einschließlich Verlesung der Anklageschrift – klären wollten.

    Die Personalienaufnahme beginnt und spätestens hier nehmen die Spannungen im Saal Form an: Sowohl der Angeklagte Ihsan Cibelik als auch Özgül Emre nutzen ihre Personalienaufnahme für eine Rede. Cibelik wird am Ende seine Personalien bestätigen, aber fordert, danach noch einmal über die Trennscheibe zu diskutieren. Er appelliert an den Senat, sich bewusst zu machen, dass es sich bei den Angeklagten um Menschen handle und nicht um irgendwelche Objekte. Seit 40 Jahren mache er Musik, seit 40 Jahren kämpfe er gegen Verbrechen, die an der Menschheit begangen werden.

    Özgül Emre wird ihre Personalien nicht bestätigen, das Senat wird an ihrer Stelle deren Feststellung übernehmen. Emre prangert an, dass sie als Marxistin-Leninistin hinter einer Trennscheibe – getrennt vom Anwalt und umzingelt von Polizisten – sitzen müsse “wie eine Verbrecherin”. Sie fragt das Gericht, warum man sie als so große Gefahr betrachte, während die Faschistin Beate Zschäpe während des NSU-Prozesses sich – noch zwischen ihren Anwalt:innen sitzend – die Haare bürsten durfte.

    Staatsanwaltschaft und Richter schneiden Verteidigung das Wort ab

    Nach der Personalienaufnahme kommt es zum erneuten Konflikt darüber, wann über die Trennscheibe verhandelt werde, außerdem wird um eine Unterbrechung gebeten, weil wichtige Informationen über einen V-Mann – also einen bezahlten Spitzel einer staatlichen Behörde – der Verteidiger:innenseite erst kurz vor dem Prozess mitgeteilt wurden. In einer dynamischen Diskussion darüber unterbricht schließlich einer der Staatsanwälte die Verteidiger:innen und beginnt einfach, die Anklageschrift zu verlesen. Der Vorsitzende Richter schaltet kurz danach die Mikrofone der Verteidiger:innenseite zumindest kurzfristig ab.

    Dann versuchen vier Wachtmeister:innen die zwei hungerstreikenden Frauen dazu zu bewegen, ihre Solidaritätsshirts auszuziehen oder den Saal zu verlassen. Nach einer kurzen Auseinandersetzung beschließt der Vorsitzende Richter, dass die Frauen bleiben dürfen.

    Trotzdem kommentiert er, dass man bitte “ruhig” bleiben möge, und bedankt sich ausgiebig bei den Wachtmeister:innen. Im Laufe des Prozesses wird der Richter noch viele Male Solidaritätsbekundungen und Klatschen der Besucher:innen kritisieren und dabei versuchen, möglichst neutral aufzutreten.

    Der Senat beschließt, erst nach der Verlesung der Anklageschrift über die Trennscheibe zu verhandeln. Trotz der angespannten Situation scheinen die Angeklagten bei deren Verlesung ruhig und konzentriert, immer wieder winken sie den Besucher:innen zu oder zeigen das Victory-Zeichen, lächeln.

    „Das ist legales Unrecht!“ – Interview mit dem „Komitee – Weg mit den Paragraphen 129 A&B”

    Kundgebungen, Konzerte und Kulturvereine

    Bei der Verlesung der Anklageschrift wird deutlich, dass sich die meisten Vorwürfe nur auf die Organisation von Kundgebungen, politischen Veranstaltungen, Konzerten sowie die Finanzierung von Kulturvereinen beziehen. Diese sollen der DHKP-C nahe stehen.

    Außerdem sollen sie jeweils Deutschland- oder Regionalverantwortliche der Organisation gewesen seien und bei der Ausbildung neuer Kader:innen geholfen haben. Ihsan Cibelik wird auch seine Mitgliedschaft in der antifaschistischen Band Grup Yorum” zur Last gelegt. Die Band ist in der Türkei äußerst bekannt: im Jahr 2014 waren zu einem Konzert der Band etwa eine Million Menschen gekommen.

    Es folgt eine Mittagspause, draußen auf der Kundgebung werden Fahnen hochgehalten. Die Polizei greift ein, es seien nur rote Fahnen angemeldet. Eine Palästina-Fahne wie auch eine Fahne der Organisation “Samidoun” müssen wieder eingezogen werden.

    Zählt ein Freispruch bei Protokollantinnen?

    Im Gerichtssaal wird die Diskussion um die Trennscheiben wieder aufgenommen. Der Staatsanwalt greift die Verteidiger:innenseite scharf an und wirft ihr vor, die von ihr gestellte Protokollantin sei ebenfalls DHKP-C Mitglied. Das macht er daran fest, dass sie sich früher einmal mit „hochrangigen“ Mitgliedern getroffen haben soll. Wer diese seien sollen, wird nicht gesagt, und dass die Frau von einem belgischen Gericht freigesprochen wurde, wird ignoriert.

    Der Vorsitzende Richter gibt sich ruhig, doch verzögert er letztlich die Diskussion immer wieder, schiebt sie gemeinsam mit dem Senat auf einen späteren Prozesstermin. Die Angeklagten müssen hinter den Scheiben – getrennt und weit entfernt von ihrer Verteidigung – sitzen bleiben.

    “Keine Waffengleichheit”

    Es wird weiter über verschiedene Fragen verhandelt, unter anderem das Selbstleseverfahren. Etwa 1000 Seiten sollen für den Prozess von allen Beteiligten selbst gelesen und im Prozess nicht mehr vorgelesen werden. Dazu sollen den Angeklagten Laptops zur Verfügung gestellt werden.

    Serkan Küpeli sowie seine Anwältin Anna Busel berichten, dass er bisher drei Laptops hatte, die sich alle nach etwa einer Stunde selbst ausgeschaltet hätten. Auch Markierungen in den Dokumenten zu machen, sei nicht möglich gewesen. Zwei der Angeklagten hatten noch nicht einmal die Möglichkeit, ihre Laptops mit in die Besprechung mit ihren Verteidiger:innen zu nehmen.

    Anwälte und Angeklagte seien auch während der Prozessvorbereitung durch eine Glasscheibe getrennt, wodurch das Vorbereiten der Gerichtsverhandlungen erheblich erschwert werde. Es gäbe deshalb keine “Waffengleichheit”, so die Verteidiger:innenseite.

    Die Staatsanwaltschaft kommentiert, dass man, wenn sich die Laptops immer wieder ausschalteten, diese einfach an den Strom anschließen solle. Beendet wird der Komplex, indem der Richter anbietet, dass die Dokumente ausgedruckt werden – 1000 Seiten Anklage, Beweise und Anträge.

    V-Mann im Einsatz?

    Zum Abschluss kündigt der Anwalt Roland Meister an, am nächsten Prozesstag einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens stellen zu wollen. Darauf folgt ein Antrag des Anwalts Yener Sözen, der die Angeklagte Özgül Emre vertritt. Er fordert, den Prozess vier Wochen zu pausieren. Es seien wesentliche Informationen durch die Staatsanwaltschaft zurückgehalten worden – unter anderem, dass gegen seine Mandantin ein V-Mann im Einsatz gewesen war. Dieser soll in Verbindung mit drei Mikro-SD-Karten stehen, deren Inhalt teilweise als Beweise angeführt werden.

    Der Anwalt weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der V-Mann vom Verfassungsschutz für seine Tätigkeit bezahlt wurde und es von daher unklar sei, ob das nicht ein Motiv zur Fälschung der Inhalte darstelle. So müsse die Echtheit überprüft werden. Unklar sei auch, wer an der Durchsuchung des Autos, in dem die SD-Karten gefunden wurden, beteiligt gewesen sei. Die Pausierung des Prozess ist noch nicht abschließend beschlossen.

    Das Oberlandesgericht hat vorerst 16 Verhandlungstage bis Ende August terminiert. Insgesamt soll der Prozess bis November andauern.

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