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Sonntag, April 28, 2024
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    „Tag X“ in Leipzig: die hässliche Fratze des Polizeistaats

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    Anlässlich der Urteilsverkündung im „Antifa-Ost-Prozess“ fanden in den vergangenen Tagen bundesweit Aktionen gegen die zunehmende Kriminalisierung von Antifaschist:innen statt. Das Mobilisierungspotential war immens, jedoch wurden besonders in Leipzig Versammlungen immer wieder schikaniert und angegriffen. Die Polizei zeigte: für Grundrechte ist hier kein Platz. – Ein Kommentar von Konstantin Jung

    Eine Jugenddemonstration am “Internationalen Kindertag” wird wegen Konfetti-Kanonen angegriffen, das Recht auf Versammlung wird kurzerhand für ein ganzes Wochenende faktisch ausgesetzt, hunderte Menschen werden bei sieben Grad Celsius bis zu elf Stunden in einem Kessel ohne Zugang zu Sanitäranlagen zusammengedrängt … Die Liste der polizeilichen Repressionen in den vergangenen Tagen in Leipzig ließe sich beliebig fortsetzen – der Polizeistaat fletscht seine Zähne im Gewand eines vermeintlichen „Rechtsstaats“.

    Es sind finstere Zeiten für antifaschistische und revolutionäre Kräfte. Der Prozess rund um die Antifaschistin Lina E. mit all seinen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten sorgt für legitimen Protest der linken Bewegung und darüber hinaus. Polizei und Behörden nehmen dies wiederum zum Anlass, um genau diesen Protest möglichst stark zu kriminalisieren und junge Demonstrierende abzuschrecken.

    Freiheit für Lina! – Weg mit §129!

    Veranstaltungsstarkes Wochenende in Leipzig

    Auch abseits der Proteste war es am Wochenende in Leipzig trotzdem rappelvoll: Ein Stadtfest, 40.000 Gäste beim Konzert von Herbert Grönemeyer, Public-Viewing des DFB-Pokalfinales und 12.000 Fußballfans beim sächsischen Pokalfinale im Bruno-Plache-Stadion – so viel nur zu den größten Veranstaltungen am Samstag.

    Kurzerhand hatte das sächsische Innenministerium beschlossen, einen 48-stündigen “Kontrollbereich” im ganzen Leipziger Zentrum und über weite Teile der Stadt hinaus zu zu errichten. Mit der Unterstützung von Bundespolizei und Beamt:innen aus elf weiteren Bundesländern konnten Leipziger Polizist:innen damit faktisch an jeder möglichen zentrumsnahen Zufahrtsmöglichkeit Personen willkürlich kontrollieren und Platzverweise verteilen – ein Instrument, von dem sie auch herbe Gebrauch machten.

    Grundrechte für ein paar Tage futsch

    Diese Maßnahme richtete sich – wie zu befürchten war – vornehmlich gegen diejenigen, die in diesen Zeiten die autoritäre Handlungsweise der deutschen Klassenjustiz nicht mehr ertragen wollen oder können. Schließlich hatte die Stadt noch mehr Grundrechtseinschränkungen parat: mit einer “Allgemeinverfügung” vom Tag VOR der Urteilsverkündung wurden alle ‘thematisch passenden’ Demos, die nicht bis zum Tag darauf angemeldet worden waren, verboten. Das Recht auf (spontane) Versammlungen war dadurch also plötzlich weg.

    Während später bei militanten Auseinandersetzungen zwischen autonomen Antifaschist:innen und der Polizei die üblichen Reaktionen folgten, zeigte die Art der Repression bei friedlichen Demonstrationen am Samstag doch eine neue Entwicklung: Die genehmigte Versammlung unter dem Motto “Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig” am Samstag wurde – präventiv wegen des wahrscheinlichen Verbots der ursprünglichen „Tag-X“-Demonstration, die später auch folgte – ordnungsgemäß angemeldet. Sie war bestens vorbereitet, und Szenarien für den Fall, dass doch mehr Leute erscheinen würden als zuvor angekündigt, wurden durchgeprobt und mit den Behörden abgesprochen.

    Der Polizei vor Ort war das jedoch egal: Der genehmigte Demonstrationszug wurde bedrängt und mit dem Vorwurf der Vermummung gestoppt. Unter eben diesen Vermummten befanden sich auch mutmaßliche „Tatbeobachter“ des USK Bayern (Unterstützungskommando), die als Zivilpolizist:innen andere Demonstrierende ausspähen oder Situationen auch eskalieren lassen können.

    Elfstündige Schikane im „Leipziger Kessel“

    Welche Rolle das USK konkret gespielt hat, bleibt unklar. Doch glasklar ist dagegen, dass die Polizei die Menschenwürde an diesem Abend – besser gesagt in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag – teils elf Stunden lang mehr als nur angetastet hat. Schätzungsweise 500 Menschen wurden auf engstem Raum eingekesselt, die Message an alle Dagewesenen: “Sowas macht ihr hier nie wieder!”.

    Neben entschlossenen Antifaschist:innen befanden sich in dem Kessel auch unbeteiligte Anwohner:innen. Viel wichtiger dabei ist aber der Fakt, dass eine beachtliche Menge an Minderjährigen unter ihnen war. Sie eint jedoch, dass niemand von ihnen Zugang zu Sanitäranlagen hatte und allen von ihnen schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen wurde. Beim Lesen des (eigentlich nicht eigenständigen) Tatbestands fallen einem allerdings doch gewisse Diskrepanzen zur Situation vor Ort auf.

    Polizeigewalt und mindestens demoralisierendes Verhalten bei Personenkontrollen

    Essen und Trinken konnte den Beteiligten nämlich nur durch solidarische Demo-Sanitäter:innen gestellt werden. Abgesehen vom Hunger, Durst und Harndrang dürften jedoch die „Psychospielchen“ der Polizei die Demonstrierenden am stärksten zermürbt haben. Wie mehrere Betroffene berichten, setzten sich die Einsatzkräfte aus Bayern und Nordrhein-Westfalen alle halbe Stunde ihre Helme auf und rückten ein paar Schritte näher, nur um kurz danach wieder entspannt auszusehen. Das Ganze wiederholte sich fortlaufend – eben elf Stunden lang. So etwas wie zur Ruhekommen wurde damit quasi unmöglich – stattdessen gab es Wut und Panikattacken im Kessel.

    Gegen 2 Uhr nachts wurde der Kessel dann tatsächlich Stück für Stück aufgelöst. Einzelne Personen wurden nach und nach herausgezogen und beklagten schwere Gewaltanwendung und -androhung, wie auch Perspektive zugetragen wurde. Letztlich verblieb die Polizei dabei, alle Menschen vor Ort zu fotografieren, dazu noch Straftatbestände auszuwürfeln und alle Handys „auf unbestimmte Zeit“ einzufordern. Minderjährige wurden zwar „priorisiert“, was in der Realität jedoch eine stundenlange Trennung von den Eltern bedeutete, welche wiederum völlig im Unklaren über die Situation ihrer Kinder herumtappten. Kein Grund zur Sorge für die Polizei, die Berichten zufolge Kindern sogar in die Unterhose schaute und leuchtete!

    Eure Repressionen kriegen uns nicht klein – wir sind auf der Straße im Widerstand vereint!

    Die vollständige Aufarbeitung der polizeilichen Schikane, wenn nicht Folter, der vergangenen Tage wird wohl noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Zurück bleiben etliche Verletzte, sei es durch Wunden am Körper oder durch traumatische Erfahrungen mit dem Staat und seinen gewaltsamen Repressionsorganen. Deshalb widmen wir in diesem Moment und darüber hinaus unsere vollste Solidarität allen Betroffenen und wünschen baldige Genesung.

    Doch so oder so – der Staat wird nicht einfach auf uns warten – die Militarisierung im Inneren schreitet Tag für Tag voran. Die erstarkende Rechte, die zunehmende Einschränkung unserer Grundrechte durch etwaige Polizeigesetze und die sich zuspitzenden Kriege und Krisen machen unseren Widerstand wichtiger und notwendiger denn je. Die schrecklichen Ereignisse in Leipzig sind damit also nicht einfach ein Zufall, sondern sind im Kontext betrachtet ein klarer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und ihre Aussichten auf eine bessere Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt.

    • Seit 2022 politisch aktiv in Sachsen. Schreibt am liebsten über Antifa und Kultur im Kapitalismus. "Es gibt kein anderes Mittel, den Schwankenden zu helfen, als daß man aufhört, selbst zu schwanken."

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