`
Samstag, April 27, 2024
More

    Lettland: Rund 3.500 Russ:innen droht die Ausweisung

    Teilen

    In der vergangenen Woche bekamen 3.541 russische Staatsbürger:innen in Lettland Post von der Migrationsbehörde und wurden aufgefordert, das Land zu verlassen. Es handelt sich um Personen, die sich nicht zur lettischen Sprachprüfung angemeldet und keine Unterlagen zur Verlängerung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis eingereicht haben.

    Dem im April 2023 verabschiedeten lettischen Einwanderungsgesetz zufolge laufen in dem Land alle unbefristeten Aufenthaltstitel Anfang September aus. Wer bis zum 1. September 2023 keinen EU-Langzeitaufenthaltsstatus oder erneuten Sprachtest beantragt hat, muss Lettland bis zum 30. November 2023 verlassen, teilte die Migrationsbehörde am 20. September 2023 mit.

    Wer sich über die Ausweisung hinwegsetze, dem drohen Geldstrafen. Außerdem können staatliche Leistungen, zum Beispiel Rentenzahlungen, entzogen werden. Das Innenministerium bestätigte, dass die betroffenen Menschen das Recht hätten, sich um ein Visum oder eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu bemühen, sofern es hierfür eine Grundlage gebe.

    Die Zahlen der Migrationsbehörde belegen, dass sich insgesamt 13.147 russische Staatsbürger:innen für den Lettisch-Sprachtest angemeldet haben, den 11.301 Personen auch absolvierten. 39% der Testteilnehmer:innen konnten die Prüfung beim ersten Versuch bestehen. Mehr als 6.500 Personen haben eine Wiederholungsprüfung beantragt.

    Um die Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Kenntnisse der lettischen Sprache auf dem Niveau A2 nachgewiesen werden. Demnach muss man in der Lage sein, sich in einfachen Sätzen über Alltagssituationen zu verständigen, kurze Texte mit persönlichem Inhalt zu schreiben und Standarddokumente auszufüllen. Bewerber:innen müssen außerdem mindestens fünf Jahre in Lettland gelebt haben und einen Politik- und Geschichtstests bestehen.

    Systematische Benachteiligung aufgrund von historischen Ereignissen

    Nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Lettlands im Zweiten Weltkrieg verfolgte die lettische Regierung einen stark nationalistischen Kurs. Dies spiegelte sich vor allem im Gesetz zur Staatsbürgerschaft wider. Aus Zweifel an der Loyalität der russischsprachigen Bevölkerung hat Lettland nach dem Ende der Sowjetunion nicht alle Einwohner:innen eingebürgert. Stattdessen wurde der Status des „Nichtbürgers“ (amtliche Bezeichnung: “nepilsoņi”) eingeführt. Dieser sollte eine Übergangslösung darstellen, doch wurde seither zum Dauerprovisorium. In Lettland lebten am 1. Januar 2022 insgesamt 195.159 „Nichtbürger“, das sind 9,6 % aller Einwohner:innen. Fast alle von ihnen sind frühere Sowjetbürger:innen, davon etwa zwei Drittel ethnische Russen.

    Als „Nichtbürger“ erhalten die Menschen zwar eine ständige Aufenthaltsberechtigung, bleiben aber trotzdem staatenlos. Sie haben keinen Pass und somit auch nicht die gleichen Rechte wie die lettische Bevölkerung. Sogenannte „Nichtbürger“ dürfen nicht wählen, keine Berufe als Beamte, Polizisten oder Notare ausüben, die Arbeit im Ausland ist für sie mit erheblichem bürokratischem Aufwand verbunden, das visafreie Reisen in eine Reihe von Ländern ist ihnen unmöglich und in der Rentenberechnung werden sie benachteiligt. Damit werden den Betroffenen zentrale bürgerliche Rechte vorenthalten. Der Integration und gesellschaftlichen Teilhabe werden so massiv Steine in den Weg gelegt.

    Heute sind alle nach dem 21. August 1991 in Lettland Geborenen unabhängig vom Status der Eltern lettische Staatsbürger:innen. Laut Angaben des Deutschen Bundestags sind die meisten russischsprachigen „Nichtbürger“ in der Altersgruppe der 45 bis 80-Jährigen zu finden. Die Ausweisungen betreffen also vor allem schutzbedürftige und ältere Menschen. Einige davon haben ihr ganzes Leben in Lettland verbracht.

    Die systematische Benachteiligung russischsprachiger Ex-Sowjetbürger:innen und ihrer Kinder stieß bereits auf Kritik im In- und Ausland. Die EU sprach wiederholt Mahnungen gegen Lettlands Regularien aus und empfahl zum Beispiel die Gewährung des Wahlrechts für „Nichtbürger“ bei Kommunalwahlen und den Verzicht auf die Forderung von Aussagen im Geschichtstest, die im Gegensatz zum Geschichtsbild der Bewerber:innen stehen.

    In Lettlands Hauptstadt Riga sind knapp 40,2% der Bevölkerung Russ:innen. In der Industriestadt Daugavpils sind es sogar 53,6%. Viele Ex-Sowjetbürger:innen haben immens zur Industrialisierung dieser Städte beigetragen. Heute leben große Teile der russischsprachigen Bevölkerung in prekären Wohnsituationen am Stadtrand. Für das Restaurieren ihrer Wohnblocks wird kein Geld eingesetzt.

    Warum grade jetzt?

    Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden die Aufenthaltsregelungen für Russ:innen in Lettland verschärft. Grundlage für die neue gesetzliche Regelung ist die Angst der lettischen Regierung vor einer neuen russischen Invasion. Kritisch stehen sie auch dem Einfluss russischer Medien-Propaganda gegenüber, die das Land destabilisieren könnte. Insbesondere ist es das Ziel der neuen lettischen Regierung, die stärkste Kraft im Parlament – eine Partei, die überwiegend von russischen Muttersprachlern gewählt wird – auf Abstand zu halten. Lettlands Geschichte ist eine des jahrzehntelangen Misstrauens gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung. Die Regierung sorgt sich, auf welcher Seite die vielen russischstämmigen Bewohner Lettlands stehen, denen seit Jahrzehnten die Chancengleichheit verwehrt wird.

    Der Sprachtest soll also auch als Loyalitätsbeweis fungieren: „Integration“ durch sprachliche Anpassung, so die Devise der lettischen Regierung. Doch hinter dem Wunsch nach „Integration“, steht das Bestreben der lettischen Regierung, nationale Stärke und Geschlossenheit gegenüber Russland zu zeigen. Es geht weniger darum, die russischstämmigen Menschen in das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Leben in Lettland mit einzubeziehen, sondern darum, ein Zeichen nach Moskau zu senden.

    Die lettische Juristin und Menschenrechtlerin Elisaweta Kriwzowa kritisiert die neue Gesetzeslage. Sie ist der Meinung, dass die Ausweisungsdrohungen ein früher hingenommenes Verhalten rückwirkend zu bestrafen versuche.

    Was für „Nichtbürger:innen“ in Lettland gegen die Einbürgerung spricht

    Viele ältere Nichtletten empfinden die Sprachprüfung als zu anspruchsvoll. Besonders Menschen aus ärmeren Schichten haben Mühe, sie zu bestehen. Auch das Online-Format stellt eine große Hürde dar. Probleme bereiten zudem die hohen Gebühren und fehlenden Plätze für einen Lettisch-Sprachkurs. Derzeit könne der Staat pro Jahr nur 400 Personen Lettisch-Sprachkurse anbieten.

    Aber es gibt auch Menschen, die eine Einbürgerung überhaupt gar nicht erst anstreben und den Sprachtest nicht absolvieren wollen. Laut Studie des Deutschen Bundestags gaben 36% von denjenigen, die keine Einbürgerung anstreben, an, keine Notwendigkeit für die Erlangung der lettischen Staatsbürgerschaft zu erkennen. Da ein Viertel der lettischen Bevölkerung russisch als Muttersprache spricht, ist die Verständigung im Alltag kaum ein Problem. Während älteren Menschen in Lettland die Arbeitsjahre zu sowjetischen Zeiten für die Rente nicht angerechnet werden, haben sie in Russland Rentenansprüche. Manche verzichten deshalb aus finanziellen Gründen freiwillig auf die lettische Staatsbürgerschaft und nehmen die russische an. Für diejenigen, die oft nach Russland reisen, ist es sogar vorteilhaft, keinen lettischen Pass zu besitzen, da sie so kein Visum für Russland benötigen.

    Ein großer Teil der russischsprachigen Bevölkerung wirft dem lettischen Staat vor, eine Ausgrenzungspolitik mit dem Ziel einer Spaltung der Gesellschaft zu betreiben. Viele empfinden die Einbürgerungsprozedur als demütigend oder fühlen sich mit dem Staat Lettland nicht verbunden. Während die Bezeichnung als „Nichtbürger“ schon bereits ausgrenzend ist, führt sie auch zur weiteren Entfremdung.

    „Wir glauben, dass jeder Fall individuell behandelt werden sollte. Wir müssen verstehen, warum diese Menschen die Sprache nicht beherrschen, die Prüfung nicht bestehen und was wir tun können, um sicherzustellen, dass sie die Sprache lernen“, sagt Martin Lewuschkan, Vorsitzender der Bürgerbewegung „Russische Stimme für Lettland“.

     

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News