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Sonntag, April 28, 2024
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    „Allahu Akbar“ und „Hoch die internationale Solidarität“ – Wer protestiert auf der Sonnenallee?

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    In den vergangenen zwei Wochen ist die Sonnenallee in Berlin-Neukölln zum Schauplatz zahlreicher palästinensischer und palästina-solidarischer Proteste geworden. Politiker:innen und Medien sprechen pauschal von „Terror-Anhängern“. Doch wer nimmt sich in Neukölln tatsächlich die Straße? – Ein Kommentar von Mohannad Lamees.

    In Berlin überschlugen sich seit dem 7. Oktober die Ereignisse: Vor allem im Stadtteil Neukölln, rund um die Sonnenallee, versammelten sich trotz der von der Polizei verhängten Demonstrationsverbote immer wieder größere Menschenmengen mit teils mehreren tausend Teilnehmenden, um ihrer Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfes Ausdruck zu verleihen.

    Seitdem kam es täglich zu rassistischen Kontrollen durch die Polizei, Festnahmen und Polizeigewalt. Teile der Demonstrierenden reagierten ihrerseits mit Angriffen auf die Polizeikräfte und agierten dabei mit einem, für viele in einer deutschen Großstadt nicht vorstellbaren Maß an Militanz. Die wenigsten haben es für möglich gehalten, dass mehrere Tage lang Polizeikräfte um die Kontrolle einer Straße in Berlin ringen müssen und dass Demonstrierende hinter brennenden Barrikaden mit Feuerwerkskörpern, Kugelbomben und Steinen auf Polizist:innen zielen.

    Schon am 7. Oktober, an dessen Nachmittag von der palästinensischen Gefangenensolidaritätsorganisation “Samidoun” auf der Sonnenallee Baklava anlässlich der von der Hamas angeführten Militäroffensive verteilt worden war (übrigens bevor die Angriffe gegen israelische Zivilist:innen öffentlich wurden), begann in den bürgerlichen deutschen Medien eine Diffamierung aller Proteste in Neukölln.

    Seitdem schreibt zum Beispiel die Springer-Presse pauschal von „Israel-Hassern“, wenn über die palästina-solidarischen Demonstrierenden berichtet wird. Schnell entsteht so der Eindruck, dass rund um die Sonnenallee eine antisemitische und religiös-fundamentalistische ideologische und politische Einheit herrscht. Doch dem ist bei weitem nicht so.

    Wer nimmt sich die Straße?

    Die Frage, wer nun eigentlich momentan auf der Sonnenallee protestiert, ist nicht leicht zu beantworten. Zu Beginn der Proteste, besonders am Abend des 7. Oktobers während einer spontan angemeldeten Kundgebung an der Straßenkreuzung von Sonnenallee und Reuterstraße, war der Ausdruck vor allem von organisierten Kräften geprägt.

    Die fortschrittliche, palästinensische Gefangenensolidaritätsorganisation Samidoun ermutigte gemeinsam mit kommunistischen und sozialistischen Kräften wie dem “Kommunistischen Aufbau” und “Young Struggle” Neuköllner:innen spontan dazu, sich der Kundgebung in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf anzuschließen. Das Ziel war vor allem, die Legitimität des nationalen Befreiungskampfes der Palästinenser:innen herauszustellen. Die Kundgebung wurde später am Abend von der Polizei angegriffen und zerschlagen.

    Während sich an der gleichen Straßenkreuzung, aber auch am Hermannplatz in den Tagen und Wochen danach immer wieder Proteste entzündeten, veränderte sich die Zusammensetzung der Demonstrierenden. Als in den Tagen nach dem israelischen Raketenangriff auf ein Krankenhaus in Gaza die Intensität der Unruhen in Neukölln einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, waren revolutionäre organisierte Kräfte in den Menschentrauben auf der Sonnenallee kaum mehr präsent. Stattdessen brach sich die Wut zahlreicher Neuköllner Jugendlicher und Anwohner:innen in unkoordinierten Aktionen und Einzelinitiativen Bahn. Genau das stellte wiederum die Polizeikräfte vor große Herausforderungen, denen es in den Tagen zuvor immer wieder recht einfach gelungen war, mehrere spontane Kundgebungen und Demonstrationen einzukesseln und zu unterbinden.

    Die ungeplant wirkenden und gewaltvollen Proteste auf der Sonnenallee hingegen konnte die Polizei oft stundenlang nicht kontrollieren. Ein Sprecher der Berliner Polizei analysierte die Lage auf der Sonnenallee als „Mischszene“ – ein Ausdruck, der vom Verfassungsschutz für die gleichzeitige Anwesenheit von sogenannten Extremist:innen und Nicht-Extremist:innen benutzt wird. Diese Einordnung kommt der Wahrheit näher als die pauschale Diffamierung durch die bürgerlichen Medien. Die Lage, so der Sprecher, stelle die Polizei vor große Herausforderungen.

    Tatsächlich waren zum Beispiel am Abend des 18. Oktober verschiedenste Gruppen auf der Straße: zuvorderst Jugendliche und junge Erwachsene aus Neukölln, dazwischen Militante mit Erfahrungen im Barrikadenbau und einem Arsenal an Feuerwerkskörpern, zahlreiche Mitglieder linker und fortschrittlicher Organisationen, Revolutionär:innen, aber auch Islamist:innen.

    Während die Aktivitäten und Dynamiken vor allem von den Militanten und ihren Aktionen beeinflusst wurden, war gleichzeitig auch ein ideologischer Kampf sichtbar: hier Islamist:innen, die mit zum Teil antisemitischen arabischen Sprechchören die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die Neuköllner:innen hinter sich versammeln wollten, dort revolutionäre Kräfte, die mit internationalistischen Parolen den Ausdruck der Proteste mitzuprägen versuchten. Weder den Islamist:innen noch den Revolutionär:innen gelang es jedoch, zu größeren Teilen der Protestierenden durchzudringen, geschweige denn, die spontane Palästina-Solidarität der Mehrheit politisch zu lenken.

    Viele blieben fern

    Von Großversammlungen von Islamist:innen – wie von Medien und Politiker:innen immer wieder suggeriert – kann also keine Rede sein. Tatsächlich distanzierten sich gemäßigte islamistische Kräfte von den Protesten und riefen ihre Anhänger:innen auf, die Sonnenallee zu meiden. So betonte beispielsweise der Koordinationsrat der Muslime, dem unter anderem die türkischen Verbände “DITIB” und “Mili Görüs” angehören, dass es sich bei den Kräften auf der Sonnenallee um marxistisch-nationalistische Kräfte handele, die nicht im Interessen der Muslim:innen handeln würden. Muslim:innen, so der Koordinationsrat, sollen sich deshalb nicht für die Aktionen von „Areligiösen“ verantworten müssen.

    Andere islamistische Kräfte veranstalteten eigene Aktionen an anderen Orten der Stadt. Mit der Organisation „Generation X“ führte die in Deutschland verbotene “Hizb-at-Tahrir” beispielsweise vor wenigen Tagen eine Kundgebung am Alexanderplatz durch, an der mehrere hundert Demonstrant:innen teilnahmen. Die Hizb-at-Tahrir-Islamist:innen vermischten dabei geschickt antikolonialen Sprech mit ihren islamistischen Kalifat-Forderungen.

    Auch fortschrittliche, reformistische Kräfte veranstalteten vermehrt eigene Aktionen außerhalb der Sonnenallee, anstatt sich den Protesten dort anzuschließen und sich der massiven Polizeirepression auszusetzen. Mehrere tausend Menschen nahmen zum Beispiel an einer von linksliberalen Gruppen rund um die Organisation “Palästina spricht” organisierten Demonstration am Samstag teil, die von Kreuzberg Richtung Neukölln bis genau zum Beginn der Sonnenallee zog. Die Polizei hatte den Lautsprecherwagen der Demonstration frühzeitig aus dem Verkehr gezogen, sodass die Demonstration zwar deutlich geordneter als die Proteste in der Sonnenallee war, jedoch politisch kaum ausdrucksstärker.

    Beispielhaft dafür steht auch der am vergangenen Freitag ausgerufene „Generalstreik“. Durchgesetzt wurde der Streik jedoch nicht von den Arbeiter:innen oder den Neuköllner Anwohner:innen, sondern von einem Netzwerk an arabischen Ladenbesitzer:innen und Restaurantbertreiber:innen. Während die Läden und Restaurants bei den Protesten zuvor Rückzugsorte für viele Demonstrierende boten, war die Sonnenallee am Freitag wie ausgestorben – Proteste fanden am Abend nicht statt.

    Wie weiter?

    Wie es auf der Sonnenallee – und in weiterem Sinne im ganzen Land – weitergeht, ist an den Verlauf des Kriegs um Palästina geknüpft. Vor allem dann, wenn sich die Kriegshandlungen zur Gänze auch auf den Libanon ausbreiten sollten, würde sich auch in Berlin die Situation weiter verschärfen. In welchem Maß die Islamist:innen von der Hisbollah dann auch in Neukölln die Proteste mitprägen werden, ist derzeit nur zu erahnen.

    Für revolutionäre und kommunistische Kräfte besteht unabhängig davon keine Aussicht darauf, in den nächsten Wochen und Monaten eine gewisse Hegemonie in den palästina-solidarischen Protesten zu erlangen. Doch es werden sich zahlreiche Gelegenheiten bieten, trotzdem voranzugehen und internationalistische, klassenkämpferische Inhalte auf die Straßen zu tragen und Teile der Demonstrierenden dadurch zu gewinnen und mitzureißen.

    • Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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