Der Machtkampf zwischen der Söldnerarmee „Wagner“ und der russischen Militärführung ist am Samstag eskaliert. „Wagner“-Truppen marschierten in Russland ein, besetzten im Süden die Stadt Rostow am Don und rückten auf Moskau vor. Am Samstagabend verkündete Wagner-Chef Prigoschin dann überraschend einen Deal mit dem Kreml und beorderte seine Truppen zurück. Vier vorläufige Schlussfolgerungen aus dem Geschehen.
Aufstand abgesagt: Am Samstagabend verkündete der Chef der faschistischen „Wagner“-Söldnerarmee Jewgeni Prigoschin eine Vereinbarung mit der russischen Staatsführung und rief seine Truppen zurück. Diese standen da bereits 200 Kilometer südlich von Moskau, während das russische Militär in der Hauptstadt Blockaden gegen einen möglichen Wagner-Angriff errichtete.
Der monatelange Machtkampf zwischen der Privatarmee Wagner, die für Russland im Ukraine-Krieg für die Schmutzarbeit zuständig ist, und der russischen Militärführung war am Freitag eskaliert. Prigoschin beschuldigte den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, seine Söldner aus der Luft angegriffen und dabei viele von ihnen getötet zu haben. Das Verteidigungsministerium dementierte das.
Wagner-Truppen marschierten dann am Freitagabend aus der Ukraine nach Russland ein und besetzten widerstandslos die Stadt Rostow am Don nahe der ukrainischen Grenze. Hier befindet sich das Hauptquartier der russischen Armee für den Süden des Landes, aus dem auch der Ukraine-Krieg maßgeblich koordiniert wird. Im Lauf des Samstags rückten die Wagner-Truppen dann immer weiter nördlich in Richtung Moskau vor.
Der russische Präsident Putin wandte sich daraufhin in einer Fernsehansprache an die russische Bevölkerung. Darin räumte er den Kontrollverlust des Staats über Rostow ein, warf Prigoschin Verrat vor und drohte allen Aufständischen damit, dass sie „die unvermeidliche Strafe erleiden“ würden. Putin erinnerte auch an das Jahr 1917, als „politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee“ zum Zusammenbruch des Staats und zum Bürgerkrieg geführt hätten.
Die Einigung zwischen dem Kreml und Prigoschin kam schließlich auf Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko zustande. Zwischenzeitlich war auch über ein Vermittlungsangebot des türkischen Präsidenten Erdogan berichtet worden. Wie Kremlsprecher Dmitri Peskow inzwischen bestätigte, werde es keine Konsequenzen für die Beteiligten an der Wagner-Aktion geben, Prigoschin werde nach Belarus ziehen. Die Wagner-Söldner, die sich nicht an der Aktion beteiligt haben, könnten Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen und der Armee beitreten, die Teilnehmer erhielten Straffreiheit wegen „ihrer früheren Verdienste für die Nation“.
„Wiederaufbau“-Konferenz für die Ukraine: Alles nur uneigennützige Hilfe?
Wie sind die Ereignisse in Russland politisch einzuschätzen? Dazu vier erste Schlussfolgerungen aus der aktuellen Nachrichtenlage:
- Die Rolle US-amerikanischer Geheimdienste: Die Meuterei der Wagner-Armee war keineswegs spontan und die Reaktion auf einen kurz zuvor erfolgten Angriff. Wie die New York Times berichtet, waren amerikanische Geheimdienste bereits am Mittwoch über eine mögliche Militäraktion von Wagner gegen die russische Militärführung informiert. Die Nachricht sei jedoch geheim gehalten worden, erstens um Putin keine Steilvorlage dafür zu liefern, den USA eine Drahtzieherschaft hinter der Aktion vorzuwerfen.Zweitens hätten die USA schlichtweg kein Interesse daran gehabt, Russland bei der Vermeidung einer solchen Aktion im Vorfeld behilflich zu sein. Da Prigoschin für seine Brutalität berüchtigt ist, sei eine mögliche Absetzung der russischen Militärführung durch Wagner von den USA jedoch durchaus mit Besorgnis betrachtet worden. Auch der Vizechef des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, sprach von einer „gut durchdachten und geplanten Operation“.
- Widersprüche im Militärapparat: Die Aktion legt einmal mehr die Widersprüche im russischen Staats- und Militärapparat und die Defizite in der russischen Kriegsführung offen: Prigoschin hatte schon seit Monaten die Führung des Verteidigungsministeriums öffentlich angegriffen. Dabei prangerte er insbesondere die schlechte Versorgung der Truppen mit Munition und daraus folgende hohe Verluste an. Dies erscheint plausibel: Der frühere CIA-Chef David Petraeus schätzte die russischen Verluste in der Ukraine bereits im Februar als achtmal so hoch ein wie die gesamten Verluste der Sowjetunion im zehnjährigen Afghanistan-Krieg (1979 — 1989).Die Munitionsversorgung stellt laut New York Times auch aus der Sicht amerikanischer Geheimdienste ein großes Problem für die russische Kriegsführung dar, das sich mit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive verschärft habe. Der Konflikt zwischen Armee und Wagner sei zudem kein Theater, Putin habe Prigoschin bei seinen öffentlichen Angriffen gegen die Armeeführung bewusst gewähren lassen, ihn aber nicht im Detail kontrolliert. Nach der Eroberung der Stadt Bachmut Ende Mai vorrangig durch Wagner-Truppen habe die Armeeführung die Söldner-Armee unter ihr eigenes Kommando stellen wollen, was nun zur Eskalation des Konfliktes geführt habe.
- Abstieg Russlands? Die Wagner-Aktion einschließlich ihrer Beendigung mit einem Deal ist ein großer Erfolg für Prigoschin und eine schwere Blamage für Putin. Zwar ist noch nicht bekannt, ob es Absprachen zur Zukunft der Armeeführung gibt und welche Rolle die Wagner-Armee in Zukunft spielen wird. Zunächst sind die Söldner-Einheiten am Samstag in ihre Feldlager in der Ukraine zurückgekehrt. Die Armee haben sie jedoch einen Tag lang vor aller Welt vorgeführt. In Rostow sind sie bei ihrem Abzug von Teilen der Bevölkerung gar mit Applaus verabschiedet worden, wie auf Videoaufnahmen zu sehen ist. Ein Propaganda-Erfolg ohne Konsequenzen ist für die faschistischen Söldner also bereits erzielt. Einen Sturm auf Moskau und einen Staatsstreich dürfte Prigoschin ohnehin nicht ernsthaft vorgehabt haben: In diesem Fall hätten seine rund 25.000 Söldner nicht nur wirklich mit Teilen der Armee, sondern auch mit der – Putin direkt unterstellten – Nationalgarde aus ca. 200.000 Soldaten kämpfen müssen. Putin wiederum musste diejenigen, die er im Fernsehen noch als Verräter bezeichnet hatte, nach wenigen Stunden wieder begnadigen. Die Strategie, in der Ukraine, Syrien, Mali und anderen Staaten auf Privat-Armeen zu setzen, ist zum Bumerang für den russischen Staat geworden. Mit einer Unterstützungsanfrage beim Präsidenten Kasachstans soll Putin außerdem abgeblitzt sein. Der gestrige Tag könnte damit zu einem Symbol für den Abstieg Russlands als führende imperialistische Macht werden.
- Jahrzehntelange Schäden: Ob der Vorfall direkte Konsequenzen für den Verlauf des Ukraine-Kriegs hat, ist bislang noch offen. In Russland selbst könnte die Aktion die Bedeutung privater Söldner-Armeen und lokaler Warlords jedoch weiter stärken. Nachdem die Wagner-Truppe Rostow eingenommen hatte und auf Moskau marschierte, kündigte der tschetschenische Präsident Kadyrow an, mit seinen eigenen Paramilitärs die Wagner-Söldner in Rostow anzugreifen.In einem Extremszenario könnte der Krieg die Widersprüche in Russland so weit zuspitzen, dass der Staat faktisch in die Einflussgebiete von Warlords und Oligarchen mit Privat-Armeen zerfällt — ähnlich wie es heute schon in Libyen der Fall ist – und dort von Russland wie auch den westlichen Staaten ausgenutzt wird. In diesem Fall würde Russland wohl schnell zur Beute anderer imperialistischer Mächte wie den USA oder China werden. Die amerikanische Denkfabrik RAND schätzte die Schwächung des russischen Militärs und der Wirtschaft durch den Ukraine-Krieg bereits Anfang des Jahres als so gravierend ein, dass es „Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte dauern werde“, bis sie sich von diesen Schäden erholen würde. Putins Vergleich mit 1917 ist also möglicherweise angebracht — nur dass damals eine revolutionäre Bewegung in Russland existierte, die letztlich die Macht übernommen hat.