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Sonntag, April 28, 2024
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    Vom „Rechtsstaat“ zum Rechten Staat

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    Der Kampf um den legalen Rahmen für politische Arbeit wird härter. Während faschistische Netzwerke ihre Fäden unbehelligt weiter spinnen, werden linke Demonstrationen verboten und immer häufiger Strafverfahren gegen Organisationen geführt. Die Grundrechte scheinen dabei lange nicht so unantastbar zu sein, wie gern behauptet wird.

    Innerhalb von Recht und Gesetz kann sich Jede und Jeder in der Bundesrepublik Deutschland politisch frei engagieren – oder etwa doch nicht? Die Grenzen des Möglichen scheinen besonders in den letzten Monaten auch ohne den Beschluss oder die Abschaffung von Gesetzen neu gezogen werden zu können. Ob sie enger oder weiter werden, hängt ganz von der Richtung der Betätigung ab: Stellen Menschen die herrschende Ordnung in Frage oder verfolgen sie das Ziel, sie zu erhalten?

    Ordnung für den Kapitalismus

    Hinter der „freiheitlich-demokratischen“ Grundordnung steckt in Deutschland das System des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium. In ihm müssen sich alle Teile der Gesellschaft der Sicherung des größtmöglichen Profits für ein paar wenige Großkonzerne unterordnen. So auch der Staat, der kein neutraler Vermittler zwischen den verschiedenen Klassen ist, sondern ein Werkzeug in der Hand der mächtigsten Kapitalist:innen samt der Armee, Polizei und aller weiteren Behörden.

    Aufrecht erhalten wird der Kapitalismus dank der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse. Dies ist das Fundament, dessen Schutz eine der wichtigsten Aufgaben des deutschen Staates ist. Diesem Zweck dient auch das geltende Recht. Dabei spielt es keine Rolle, welche Form der Staat annimmt. So wollen zum Beispiel Faschist:innen durchaus Elemente der bürgerlichen Demokratie abschaffen. Die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innen tasten sie dabei jedoch nicht an – im Gegenteil, sie wollen sie sogar weiter verschärfen.

    Auf dem rechten Auge blind?

    Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die zweierlei Maße, mit denen gegen rechte und linke Aktivist:innen vorgegangen wird. Der NSU konnte mehrere Jahre lang Migrant:innen mit Hilfe des Verfassungsschutzes ermorden. Auch die mehrmalige Aufdeckung faschistischer Netzwerke in der Eliteeinheit „Kommando Spezialkräfte“ der Bundeswehr führte zu keinerlei ernsthaften Konsequenzen. Und alle Polizeieinheiten aufzulisten, die keine rechten Chatgruppen unter sich haben, wäre wahrscheinlich sehr viel schneller, als alle mit solchen Gruppen.
    Obwohl der Faschismus keine Bedrohung, sondern eine Stütze des Kapitals ist, bleiben zwar Mord, der Diebstahl von Waffen und Munition und das Verschicken von Hakenkreuzbildern immer noch gesetzeswidrig. Die Verfolgung und Verurteilung solcher Taten von faschistischen Bundeswehrsoldat:innen, Polizist:innen oder sonstigen Straftäter:innen erhält dadurch aber einen gänzlich anderen Charakter als bei Antifaschist:innen, Umweltaktivist:innen oder Kommunist:innen. Der Staat ist nicht „auf dem rechten Auge blind“, sondern rechte Strukturen sind sein notwendiger Bestandteil. Daran ändern auch Einzelpersonen nichts, die innerhalb ihrer Behörden ehrlich etwas dagegen unternehmen wollen.

    Haftstrafen für politische Betätigung

    Erfahrungen linker Organisationen und Demonstrant:innen in den letzten Monaten zeigen deutlich das andere Gesicht der staatlichen Behörden: Während sie selbst ohne große Sorgen Gesetze überschreiten können, werden selbst die angeblich unantastbaren Grundrechte für fortschrittliche und revolutionäre Aktivist:innen immer weiter beschnitten und außer Kraft gesetzt.

    So werden den Kommunist:innen Özgül Emre, Serkan Küpeli und İhsan Cibelik im Rahmen eines Strafverfahrens nach § 129b gegen eine „terroristische Vereinigung im Ausland“ ihre legalen politischen Tätigkeiten vorgeworfen, für die sie aber inhaftiert sind. Dazu gehören die Teilnahme an linken Sommercamps sowie die Organisierung von Kundgebungen, Veranstaltungen und Konzerten der türkische Musikgruppe Grup Yorum. Die deutschen Behörden übernehmen dabei unhinterfragt die Konstruktion des faschistischen Erdoğan-Regimes, dass Grup Yorum zur verbotenen kommunistischen Partei DHKP-C gehöre.

    Ähnlich heftig, wie Menschen für das Organisieren von Kundgebungen zu inhaftieren, reagierten Staatsanwaltschaft und Kriminalamt auf die Straßenblockaden der Umweltgruppe „Letzte Generation“. Ihre Forderungen sind zwar grundsätzlich harmlos für den Staat, dafür bewegen sich ihre Aktionsformen außerhalb des legalen Rahmens und erzeugen viel Aufmerksamkeit. Dafür werden sie sogar stärker verfolgt als Netzwerke von Faschist:innen. So gibt es nun ebenfalls ein Verfahren gegen die Gruppe nach § 129 als „kriminelle Vereinigung“. Aktivist:innen aus München und Regensburg wurden zudem in Präventivgewahrsam genommen. In Bayern ist diese Haft ohne Anklage bis zu drei Monate lang möglich.

    Der Fall Lina E.

    Aktionen in Solidarität mit der Antifaschistin Lina E. und ihren Mitangeklagten waren im letzten Monat die jüngste Zielscheibe massiver Repressionen und Grundrechtseinschränkungen. Im sogenannten „Antifa Ost“-Prozess wurde den Antifaschist:innen vorgeworfen, Angriffe gegen Faschist:innen verübt zu haben. Auch hier handelt es sich um den Vorwurf der Bildung einer „kriminellen Vereinigung“ nach § 129. Lina E. soll laut Bundesanwaltschaft der angebliche Kopf der Leipziger Gruppe sein. Seit September 2021 saß sie deswegen in Untersuchungshaft.

    Im Prozess selbst wurde im Vorhinein schon der politische Charakter deutlich: So stützte sich die Generalstaatsanwaltschaft nicht auf tatsächliche Beweise, sondern insbesondere auf Aussagen des Kronzeugen Johannes D., der früher mit den Angeklagten zusammengearbeitet haben soll. Zu einer zweifelsfreien Feststellung kam es weder zum Tatvorwurf noch zur individuellen Schuld. Was ansonsten als „rechtsstaatlicher“ Standard gilt, schien außer Kraft gesetzt. Die Taten selbst sind damit nicht das Primäre, weswegen Lina E. verurteilt werden sollte. Es ging darum, ein Zeichen an alle Antifaschist:innen zu senden: Während rechte Terrorstrukturen sich immer weiter ausbreiten können, werdet ihr ins Gefängnis gesteckt, solltet ihr etwas daran ändern wollen.

    Der Tag X in Leipzig

    Als dann am 31. Mai das Urteil verkündet wurde, kam es noch am selben Tag zu Solidaritätsdemonstrationen in vielen Städten. Während diese Aktionen bereits zum Teil von der Polizei angegriffen wurden, wurde die geplante Leipziger Großdemonstration am Samstag nach „Tag X“, also dem Tag der Urteilsverkündung, schnell verboten. In der Begründung für das Verbot wird auf die Lageeinschätzung des Landesamts für Verfassungsschutz verwiesen – dasselbe Amt, bei dem in den 2000er Jahren regelmäßig Akten zu Nazi-Netzwerken wie Blood & Honour oder des NSU „verschwanden“ und erst nach 2011 wieder auftauchten.

    Zusätzlich zum Verbot der antifaschistischen Demonstration wurde fast ganz Leipzig von Freitag bis Sonntag zum “Kontrollbereich”. Innerhalb seiner Grenzen waren für 48 Stunden willkürliche Personenkontrollen durch die Polizei möglich, ohne konkreten Anlass oder Verdacht.
    Beim einfachen Verbot von Demonstrationen blieb es aber in Leipzig nicht. Mehrere Tausend Beamt:innen, Hubschrauber, zehn Wasserwerfer und Räumpanzer waren am Samstag, dem 3. Juni dann in der Stadt. Die schon genehmigte Demonstration gegen die vorgenommene Einschränkung der Versammlungsfreiheit wurde von der Polizei noch vor ihrem Start bedrängt und mit dem Vorwurf der Vermummung gestoppt, wobei unter den Vermummten mutmaßliche Polizist:innen des Unterstützungskommandos (USK) Bayern als „Tatbeobachter:innen“ gesichtet wurden.

    Anschließend wurden die Demonstrant:innen von der Polizei angegriffen und eingekesselt. Niemand konnte den Versammlungsort verlassen. Für mehr als elf Stunden gab es weder Essen und Trinken noch Sanitäranlagen. Zusätzlich wurde durch ein ständiges Helme-Auf- und wieder Absetzen der Polizei eine permanente Drohkulisse aufgebaut. Als einzelne Personen nach und nach herausgezogen wurden, blieb es nicht bei Drohungen. Es kam zu schwerer Gewaltanwendung sowie Berichten zufolge zu Situationen, bei denen Personen sogar in die Unterhose geleuchtet wurde.

    Legalität und Legitimität

    Die aufgezählten Beispiele zeigen, wie es um die freie politische Betätigung innerhalb des gesetzlichen Rahmens steht, wenn es sich um Protest gegen das System handelt. Wenn die deutsche Polizeigewerkschaft nach elf Stunden Kessel und gewaltsamen Übergriffen durch die Polizei in Leipzig behauptet, „Der Rechtsstaat hat sich trotz tausendfacher Gewalt durchgesetzt“, dann kann man ermessen, wie der “Rechtsstaat” aussehen soll.

    Angesichts dessen ist klar, dass für den Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, Faschismus und Umweltzerstörung Legalität nicht gleichbedeutend mit Legitimität sein kann. Selbst die Rechte, die uns angeblich zustehen, werden mit Füßen getreten. Legitim ist, was uns näher an unsere Befreiung als Arbeiter:innen bringt und nicht, was der Staat der Kapitalist:innen erlaubt. Gleichzeitig müssen wir neue Versammlungs- und Polizeigesetze verhindern, die den Rahmen noch enger ziehen wollen und es noch leichter machen, uns einzuschüchtern und mit Strafen zu überziehen. Gegen diese innere Aufrüstung hilft uns nur der gemeinsame Kampf und unsere Solidarität und Organisierung als Arbeiter:innen.

    • Perspektive-Autor seit 2019 sowie Redakteur der Printausgabe. Auszubildender in der Metallindustrie in Berlin und Hobbykünstler.

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