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Montag, April 29, 2024
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    Nach militärischem Angriff: Aserbaidschan zwingt Artsakh (Nagorno Karabach) zur Selbstauflösung – wie konnte es dazu kommen?

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    Seit dem Wiederausbruch des nie beendeten Konflikts um die Nagorno Karabach-Region (auch Bergkarabach oder Arzach/Artsakh) im Südkaukasus 2020 kommt es immer wieder zu Angriffen Aserbaidschans auf die von Armenier:innen bewohnte Region. Mit dem neuerlichen militärischen Überfall vor wenigen Tagen befürchten viele Armenier:innen einen weiteren Genozid. Hunderte Menschen sind bereits gestorben, Tausende auf der Flucht. Zum kommenden Jahr soll die Republik Artsakh nun auch offiziell aufhören zu existieren. – Ein Kommentar von Emanuel Checkerdemian.

    Am Dienstag (19.09.) überfielen die aserbaidschanischen Truppen – drei Jahre nach ihrem letzten Angriffskrieg auf die Zivilbevölkerung Artsakhs (Nagorno Karabach) – die armenische Region erneut. In einem schnellen Angriff zwang man die armenische Seite dabei binnen 24 Stunden zur Aufgabe.

    Der als „Anti-Terror-Operation“ ausgerufene Überfall deutete sich dabei schon in den Tagen zuvor an. So verzeichneten Beobachter:innen der Region erhebliche militärische Bewegungen auf aserbaidschanischer Seite, sowie verstärkte Waffenlieferungen der verbündeten Staaten Türkei und Israel.

    Die armenische Bevölkerung Artsakhs, die zuletzt durch die Blockade des Lachin-Korridors – der einzigen Verbindung zu Armenien – neun Monate von der Außenwelt abgeschnitten wurde, hat dieser Übermacht in der offenen Auseinandersetzung ohnehin wenig entgegenzusetzen. Nun, ausgehungert und medizinisch vollkommen unterversorgt, war der Widerstandswille fürs Erste schnell gebrochen.

    Ein unter russischer Vermittlung stattfindendes Gespräch zwischen Vertreter:innen der Republik Artsakh und Aserbaidschans am 20. September untermauerte dies. So willigte die armenische Seite ein, sich entwaffnen zu lassen und jeden militärischen Widerstand aufzugeben. Mit einer für 13:00 Uhr (Ortszeit) festgelegten Waffenruhe gingen beide Seiten dann zunächst aus den Verhandlungen. Diese wurde allerdings bereits um 13:15 Uhr von den aserbaidschanischen Invasoren gebrochen und richtete sich erneut gegen zivile Ziele. So zeigen Videos, wie Soldaten der Armee von Aliyew ihre Maschinengewehre auf Wohnhäuser entleeren.

    Über 200 Menschen sind in den letzten Tagen auf armenischer Seite gestorben, mehr als 400 Menschen wurden verletzt. Darunter befinden sich zahlreiche Kinder. Dennoch begannen die Armenier:innen in Artsakh russischen Angaben zufolge am Freitag ihre Waffen abzugeben. Sechs Panzer, 800 leichte Waffen und 5.000 Schuss Munition wurden demnach (Stand Freitag) bereits eingesammelt.

    Zudem fordert die aserbaidschanische Regierung in Baku die Auslieferung von mehr als 400 Vertreter:innen der Republik Artsakh, darunter Journalist:innen und Politiker:innen. Willkürliche Festnahmen von angeblichen „Kriegsverbrechern“ sind damit quasi vorprogrammiert. Diese militärische Niederlage ist für die Zivilbevölkerung auch eine humanitäre Katastrophe.

    Von den 120.000 Einwohner:innen der Republik befinden sich mehr als die Hälfte auf der Flucht, wurden aus ihren Häusern vertrieben oder werden vermisst. Tausende strömten zum Flughafen in Stepanakert, wo die Truppen der „russischen Schutzmacht“ stationiert sind. Nach Armenien oder in andere Länder als Aserbaidschan gibt es allerdings keinen sicheren Weg, sodass die Menschen faktisch gefangen sind. Der Ausgang nach Armenien wird vom aserbaidschanischen Militär kontrolliert.

    Nun hat die Führung von Artsakh die Auflösung der selbsternannten Republik verkündet. In einem Dekret wurde angeordnet, dass zum 1. Januar 2024 “alle staatlichen Institutionen und Organisationen” in der Kaukasusregion aufgelöst würden. Der international nicht anerkannte Staat werde damit “aufhören zu existieren”.

    Politisches Versagen auf allen Ebenen

    Dass ein solcher Überfall ohne ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft möglich ist, hat vielerlei Ursachen: Zunächst ist die selbsternannte Schutzmacht von Armenien und Friedenshüterin im Südkaukasus, die Russische Föderation, ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. Die kontinuierlich stattfindenden aserbaidschanischen Aggressionen wurden von Russland nicht unterbunden, sondern geduldet. Baku hatte Moskau vor dem Angriff am 19. September informiert, und selbst der Tod einiger russischer Soldaten bei diesen „Anti-Terror-Operationen“ beförderte kein russisches Eingreifen.

    Es liegt nahe, dass dieses Nicht-Handeln u.a. eine Vergeltungsmaßnahme Putins ist: Nur eine Woche zuvor hatte sich die armenische Regierung in Jerewan auf gemeinsame Militärmanöver mit den USA eingelassen. Ohnehin ließ Russland sich durchgängig alle Optionen offen und unterhält beste Verbindungen zum Aliyew-Regime.

    Doch auch der Westen, die EU und die USA, ist für Armenien und die Republik Artsakh kein verlässlicher Partner. Zwar äußerten sich Außenministerin Baerbock und Kanzler Scholz ungewöhnlich scharf zu den aserbaidschanischen Angriffen, dennoch verbindet Berlin eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Baku. Nachdem man im Zuge des Ukraine-Krieges die Beziehungen zu Russland kappte, kauft man das Gas nun von Aliyew. Zudem wird der Angriff vom NATO-Bündnispartner Türkei unterstützt, von dem Europa sich im Zuge von sogenannten „Flüchtlingskrisen“ allzu abhängig gemacht hat.

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    Armenien als Spielball imperialistischer Mächte

    Und nicht zuletzt Armenien selbst hat unter der neoliberalen Regierung Pashinyans Verrat an der kleinen armenischen Republik Artsakh begangen. Schon im Mai „erwog“ der armenische Premierminister öffentlich, die Republik Artsakh als aserbaidschanisches Gebiet anzuerkennen, was einer vorweggenommenen Kapitulation gleicht. Kurz nach dem Angriff ließ er verlautbaren, dass die Republik Armenien der Republik Artsakh militärisch nicht zur Hilfe kommen werde.

    Mit seiner „Öffnung zum Westen“ hatte Pashinyan Armenien vollends zum Spielball der imperialistischen Mächte in Ost und West gemacht. Und selbst jetzt, wo die Evakuierung der armenischen Bevölkerung vor den aserbaidschanischen Schlächtern Priorität haben müsste, kündigt der Regierungschef aus Jerewan an, nur 40.000 Flüchtlinge aufzunehmen. „Plan A“ müsse es sein, der Bevölkerung vor Ort ein sicheres Leben zu gewährleisten.

    Zynisch, führt man sich das erklärte Kriegsziel Aliyews, die völlige Vernichtung der Armenier:innen, vor Augen. Schon 2005 offenbarte der heute noch amtierende Bürgermeister Bakus, Hajibala Abutalybov, einer deutschen Delegation freimütig: „Unser Ziel ist die vollständige Auslöschung der Armenier. Sie, Nazis, haben bereits die Juden in den 1930er- und 40er-Jahren eliminiert, richtig? Sie sollten in der Lage sein, uns zu verstehen.“

    Wie geht es weiter für die Menschen in Artsakh und Armenien?

    Die Menschen in der südkaukasischen Republik stehen momentan vor dem Nichts. Ausgehungert und den Feind im Nacken, hoffen die meisten wohl nun darauf, irgendwie nach Armenien zu kommen. Teilweise werden die Menschen auch schon evakuiert. Dennoch werden Zehntausende den Gräueln der aserbaidschanischen Angreifer ausgesetzt sein. So wurde bspw. auch der ehemalige Staatsminister Ruben Vardanyan von aserbaidschanischen Kräften festgenommen und nach Baku verschleppt.

    Schon in den letzten Kriegen bewiesen faschistische Armeeeinheiten, wie sie die Androhungen einer Auslöschung wahr werden lassen: Verstümmelungen, Vergewaltigungen, Grab- und Leichenschändungen sowie die Zerstörung historischer armenischer Stätten sind ausgiebig dokumentiert.

    Der armenische Revolutionär und Veteran im ersten Karabach-Krieg, Monte Melkonian, befürchtete schon damals, dass die Niederlage in Artsakh die letzte Seite der armenischen Geschichte aufschlagen würde. Und es sieht ganz so aus, als würde Aserbaidschan nach der Einnahme von Artsakh nicht halt machen. Zahlreiche Androhungen durch Aliyew und Co. belegen die Absicht, auch Armenien selbst zu überfallen und dem aserbaidschanischen Staat einzuverleiben – inklusive der Vernichtung der armenischen Bevölkerung.

    Verlassen von der eigenen Regierung und der internationalen Staatengemeinde wird den Armenier:innen nur die Selbstverteidigung übrig bleiben. Eine Zeit entsetzlicher Verluste scheint damit vorgezeichnet. Wie bei den Kurd:innen gilt auch für die Armenier:innen zurzeit: Keine Freunde außer den Bergen!

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