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Sonntag, April 28, 2024
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    Die palästinensische Militäroffensive spaltet Berlin-Neukölln in Unterdrücker und Unterdrückte

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    In Berlin-Neukölln solidarisierten sich am Wochenende zahlreiche Menschen mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Die Regierenden versuchen mit Law-and-Order-Politik und Verleumdungen diese Solidarität zu kriminalisieren. – Ein Kommentar von Mohannad Lamees

    Ein paar Stücke Baklava wurden am Samstag zu einem Symbol für den Gegensatz, der den Berliner Stadtteil Neukölln rund um die ‚arabische‘ Einkaufsstraße Sonnenallee, aber auch die Gesellschaft insgesamt spaltet. In Reaktion auf die militärischen Operationen palästinensischer Widerstandsgruppen verteilten einige palästinensische Aktivist:innen der Gruppe Samidoun auf der Sonnenallee Süßigkeiten – als Ausdruck der Freude über den gelungenen Angriff auf das israelische Militär und israelische Siedlungen, aber auch als Zeichen der unmittelbaren Verbundenheit der palästinensischen und arabischen Exilgemeinden mit dem Heimatland.

    Der bürgerliche Staat fasst den Jubel als Provokation auf

    Dass ein Angriff auf Israel bejubelt wird, stellt für deutsche Behörden und Medienhäuser eine Ungeheuerlichkeit dar, schließlich ist die Israel-Solidarität Staatsräson. Der Aufstieg der BRD zur Hegemonialmacht in Europa und der deutsche Imperialismus nach 1945 gingen mit einem Image-Wechsel einher, der auch die Unterstützung des israelischen Staats als vermeintliche Lehre aus dem Holocaust beinhaltet. Schnell wurden deswegen auch am Samstag die ideologischen Waffen gezückt, um auf die Palästina-Solidarität zu reagieren: Die in Palästina-Flaggen gehüllten Süßigkeiten-Verteiler:innen wurden als vergiftete, zynische, antisemitische Terror-Verherrlicher:innen und als Feinde der Demokratie betitelt.

    Doch die Unterstützungsbekundungen sind kein Ausdruck von Unmoral – sie sind revolutionär. Während am Samstag bei vielen Beobachter:innen in Deutschland noch die üblichen Filmschleifen im Kopf zur Situation in Palästina abliefen – ‘wieder eine Terrorattacke, wieder israelische Opfer, wieder muss sich Israel verteidigen‘ – war den Palästinenser:innen und Internationalist:innen auf der Sonnenallee bereits die Tragweite des palästinensischen Angriffes bewusst. Gefeiert wurde nicht die Politik der Hamas, sondern die Offensive der Widerstandskämpfer aus Gaza, die trotz jahrzehntelanger Blockade die Kraft aufgebracht hatten, den hochgerüsteten Militärapparat Israels zu überrumpeln. Der Jubel und die Begeisterung galt und gilt dem eindeutig erbrachten Beweis, dass die Unterdrückten, angetrieben durch ihre Entschlossenheit und ihren Mut, in jeder Lage für ihre Freiheit kämpfen und auch gewinnen können – egal wie ungleich die Kräfte verteilt sind.

    Gewaltsame Auflösung einer palästinensischen Kundgebung

    Das war auch der Tenor am Abend, als sich gegen 21 Uhr an einer Ecke der Sonnenallee palästinensische Aktivist:innen von Samidoun und Internationalist:innen für eine spontane Kundgebung versammelt hatten. „Der 7. Oktober ist schon heute ein Tag für die Ewigkeit, weil gezeigt wurde, dass ein Sieg möglich ist“, äußerte dort zum Beispiel ein Passant, bevor er sich der Kundgebung anschloss. Auch andere Neuköllner:innen stimmten in die Parolen und Gesänge ein. In einem Redebeitrag machte ein Samidoun-Aktivist klar: „Es wird nichts mehr so sein wie vorher.“ Am Rande der Kundgebung erzählte ein weiterer Passant: „Ich konnte heute Morgen meinen Augen nicht trauen, als ich die Nachricht über die Offensive gehört habe. Es ist unglaublich, wie stark der Widerstand gegen die jahrzehntelange Unterdrückung ist“.

    Dieser revolutionäre Enthusiasmus war dem Staat ein Dorn im Auge. Nicht umsonst hatte der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel am gleichen Tag bereits erklärt, dass Neukölln „fest an der Seite Israels“ stehe. Die schnell zum Ort der Kundgebung herbeigeeilten Polizeikräfte riegelten die Straßenecke zwar vorerst nur ab. Die mehrfache Forderung der Demonstrierenden, ihnen die Straße für einen Demonstrationszug frei zu machen, wurde aber ignoriert.

    Stattdessen beschuldigten die Polizist:innen die Demonstrierenden, ‚israelfeindliche‘ Parolen zu rufen. Gemeint war damit vor allem die Losung „Palestine will be free – from the river to the sea“. Schließlich nahm die Polizei diese Parolen zum Vorwand, um die Kundgebung gewaltsam aufzulösen – ca. 40 Personen wurden – teils unter Faustschlägen und Tritten durch die behelmten Polizist:innen – festgenommen. Im Ergebnis hinderte die Polizei auf diese Weise die Demonstrant:innen, ihre Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfes auf die Sonnenallee zu tragen.

    Die Polizeigewalt machte deutlich, dass die Worte des Bezirksbürgermeisters Hikel keinesfalls nur symbolisch gemeint waren. Tatsächlich ist nur folgerichtig, dass eine offene Bekundung der Unterstützung eines antiimperialistischen Kampfes wie dem der Palästinenser:innen in Deutschland Unbehagen bei den Regierenden auslöst. Die Überzeugung, dass Ausgebeutete und Unterdrückte in größter militärischer Unterlegenheit Erfolge gegen ihre Unterdrücker erreichen können, ist auch in Deutschland Zündstoff – gerade in Zeiten wie jetzt, wo sich der deutsche Imperialismus insgesamt besonders strecken muss, um im eigenen Land für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

    Repressionen ziehen immer weiter an

    In der bürgerlichen Presse wird die Kundgebung seit Samstagnacht durchgehend als antisemitisch bezeichnet, als seien die Demonstrierenden allesamt Unterstützer der Hamas – die bürgerliche Botschaft ist klar: Das sind alles Islamisten, jede Äußerung von ihnen ist islamistisch, nichts an den Forderungen und Erklärungen der Demonstrierenden sei wahr, alles sei der deutschen Ordnung entgegengesetzt.

    Während am Neuköllner Rathaus Israel-Fahnen wehen und das Brandenburger Tor mit der israelischen Flagge angestrahlt wird, ist tatsächlich offensichtlich, dass der Protest auf der Sonnenallee und die Freude über eine Offensive der Unterdrückten mit der bürgerlichen Ordnung unvereinbar sind. Der Grund dafür ist jedoch nicht Antisemitismus oder Unmoral, sondern der Fakt, dass Deutschland an der Seite des zionistischen Kolonialregimes steht und der Protest auf der Seite der Widerstandskämpfer. „Die deutsche Polizei erledigt die Arbeit der Israelis in Neukölln“, fasste ein Redner treffend die Lage auf der Kundgebung zusammen.

    Inmitten der Welle der öffentlichen Empörung über das Verteilen der Süßigkeiten am Samstag stellt die Neuköllner Polizei genau diesen Zusammenhang tatkräftig unter Beweis: Samidoun-Plakate entlang der Sonnenallee werden durch Polizeibeamt:innen von den Wänden gerissen und abgekratzt, eine immer wieder auftauchende aufgemalte Palästina-Flagge am Hermannplatz wird mehrmals weiß überstrichen, es gibt zahlreiche Durchsuchungen und Kontrollen, bei denen ganz unverhohlen und rassistisch arabisch aussehende Passant:innen nach Palästina-Utensilien wie Kuffiyehs oder Stickern durchsucht und zum Teil auch festgenommen werden. De facto wird versucht, jede Bekundung einer Unterstützung des palästinensischen Kampfes zu unterbinden. Die Maßnahmen sind für sich genommen in den letzten Jahren nicht ungewöhnlich, in ihrer Ballung erreichen sie aber eine neue Qualität.

    Neuköllner Ausnahmezustand könnte zur Regel werden

    Am Montag kam es zu weiteren Festnahmen auf der Sonnenallee – wieder wegen des offenen Tragens von palästinensischen Symbolen und Fahnen. Am Dienstag dann wurde eine für den Mittwoch angedachte palästina-solidarische Demonstration verboten. Auch kursiert seit Anfang der Woche ein Video in den sozialen Netzwerken, auf dem zu sehen ist, wie ein Lehrer einem Schüler ins Gesicht schlägt. Der Schüler hatte eine Palästina-Fahne auf dem Pausenhof eines Gymnasiums an der Sonnenallee hochgehalten und war deswegen von dem Lehrer zuerst vehement verbal und anschließend körperlich angegangen worden. Den Aussagen der Polizei, dass der Schüler als Erster Gewalt angewandt habe, widersprechen zahlreiche Schüler:innen. Auch wenn anti-palästinensischer Rassismus und Einschüchterung seit langem zum Schulalltag in Berlin gehören, so ist eine derartige Eskalation neu.

    Dieser Ausnahmezustand könnte aber, je nachdem wie sich die Ereignisse in Palästina entwickeln, normal werden. Mit den Demonstrationsverboten und der Repressionskampagne gegen palästinensische Aktivist:innen haben die Berliner Behörden in den letzten Jahren bewiesen, dass sie bereit sind, beim Thema Palästina deutlich mehr Härte zu zeigen als in anderen politischen Zusammenhängen. Doch auch wenn die Repression stärker wird – der palästinensische Befreiungskampf liefert derzeit ein eindrückliches Beispiel dafür, dass auch den härtesten Repressionen getrotzt werden kann.

    • Seit 2022 bei Perspektive Online, Teil der Print-Redaktion. Schwerpunkte sind bürgerliche Doppelmoral sowie Klassenkämpfe in Deutschland und auf der ganzen Welt. Liebt Spaziergänge an der Elbe.

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