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Sonntag, April 28, 2024
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    Eine Ohrfeige für den Staat

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    Im November vor 55 Jahren ohrfeigte die Antifaschistin Beate Klarsfeld auf dem CDU-Parteitag in Westberlin den damaligen Bundeskanzler Kurt Kiesinger. Doch der Schlag war nicht nur gegen einen einzelnen Politiker gerichtet. Vielmehr galt er einem Staat, der seine politische Führungsetage systematisch mit ehemaligen Faschisten füllte.

    Die Menge in der Kongresshalle in Westberlin war am Morgen des 7. November 1968 im Unklaren darüber, was für ein einschneidender Moment sie auf dem Parteitag noch erwarten würde – nicht zuletzt aufgrund der massiven Sicherheitsmaßnahmen, die eventuelle Störaktionen durch linke Gruppen der Studierendenbewegung verhindern sollten.

    Doch Beate Klarsfeld gelang es trotzdem, gelassen die Reihen entlang in auf Kurt Kiesinger zuzulaufen und ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Sie konnte noch laut „Nazi! Nazi!“  in die Richtung des Bundeskanzlers rufen, bevor ein paar Ordner sie aus dem Saal warfen.

    Der braune Kiesinger

    Erst wenige Tage zuvor zogen viele Studierende nach einem Aufruf des SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund“) zum Tegeler Weg in Berlin und lieferten sich dort stundenlange Straßenschlachten mit der anwesenden Polizei, die die Lage kaum in den Griff bekam. Der Frust der etablierten Politiker über die aufständischen Studierenden war groß.

    Die studentischen Massen, die bereits seit mehreren Jahren gegen die gescheiterte Entnazifizierung in der BRD auf die Straße gingen, waren gut organisiert und versuchten in der Gesellschaft auf Altnazis wie Kiesinger aufmerksam zu machen. Ein Umstand, der Angst bei den Politikern auslöste, welche größtenteils versuchten, ihre NS-Vergangenheit zu vertuschen.

    Kurt Georg Kiesinger war bereits ab 1933 NSDPAP-Mitglied. Begeistert schloss er sich schon früh der Partei und dem „Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps“ (NSKK) an. Aus reiner Überzeugung engagierte sich der junge Kiesinger außerdem in der faschistischen „Deutschen Studentenschaft“. Diese politische Karriere steht exemplarisch für so einige, die in der frisch gegründeten Bundesrepublik an der Macht waren – sei es in den Verwaltungen, Parlamenten oder Gerichten.

    Die berühmte Ohrfeige – nur ein Teil des Kampfes einer jungen Antifaschistin

    Bereits 1966 regte sich großer Widerstand gegen die angetretene Kiesinger-Regierung, welche die erste große Koalition aus CDU und SPD in der BRD bildete. Noch im selben Jahr formierte sich die “Außerparlamentarische Opposition” (APO), die über die Monate und Jahre hinweg eine treibende Kraft in der noch jungen Studierendenbewegung wurde. Wie auch der SDS setzte sich die APO für die Demokratisierung der Gesellschaft ein, kämpfte für eine Überwindung des kapitalistischen Systems und forderte den Abzug der US-Truppen aus Vietnam.

    In diesen Jahren begann die noch junge Beate Klarsfeld mit ihren Aktionen gegen die postfaschistische Hegemonie. Bereits Monate vor der Ohrfeige störte sie eine Plenarsitzung des Bundestages in Bonn, als sie mit Rufen ehemalige NSDAP-Mitglieder mit ihrer Vergangenheit konfrontierte.

    In den Jahren nach 1968 führte Klarsfeld ihr antifaschistisches Engagement fort. Dass sie in den 1970er Jahren die Verstrickung des FDP-Politikers Ernst Eschenbach in die Deportationen jüdischer Opfer aus Frankreich nachwies, ist nur eines von vielen derartigen Beispielen. Der 7. November 1968 mag somit wohl der aufmerksamkeitserregendste Höhepunkt einer bestimmten Ära sein – die symbolische Bedeutung der Ohrfeige im Kampf gegen die Nazi-Vergangenheit des deutschen Staats geht jedoch weit darüber hinaus.

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