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Samstag, April 27, 2024
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    Täter-Opfer-Umkehr vor Gericht – Einzelfall oder Dauerzustand?

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    In Göttingen ging in der vergangenen Woche der „Theaterplatz-Prozess“ zu Ende. Hintergrund dessen war ein schwerer Angriff dreier gewaltsuchender Neonazis auf ein schwules Paar in der Göttinger Innenstadt im November 2018. Vor Gericht trat einmal mehr ein bekanntes Phänomen zu Tage: Die Verteidigung der Neonazis inszenierte mit fadenscheinigen Behauptungen die Täter als Opfer und andersherum. – Ein Kommentar von Arthur Jorn.

    Schon beinahe fünf Jahre ist es jetzt her, als zwei junge Männer am Göttinger Theaterplatz von drei Neonazis auf brutale Art und Weise angegriffen worden sind. Heute schildert eines der Opfer, dass er – vermutlich wegen seiner langen Haare – als „Schwuchtel“ homophob beleidigt wurde. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung hinterließen die Täter einen Mann bewusstlos und den anderen Mann mit einem Kieferbruch zurück.

    Nach einem langjährigen Prozess wurde nun am 23. Oktober das Urteil im Göttinger Landgericht verkündet. Die Freude der Täter, die früher in einschlägigen Neonazi-Organisationen aktiv waren, dürfte darüber groß sein. Der Hauptangeklagte wurde lediglich zu 60 Tagessätzen à 30 Euro verurteilt, woraus sich insgesamt eine Geldstrafe von 1.800 Euro ergibt.

    Das Strafmaß, das sich weit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft befindet, spiegelt keinesfalls die politische Tragweite der Tat wider. Das homophobe Weltbild der Neonazis führte dazu, dass eines der Opfer einen doppelten Kieferbruch erlitt. Eine Tatsache, die im Prozess nach und nach an Beachtung verlor. Von einer wirklichen Aufarbeitung der rechten Gewalt kann also, wie so oft, nicht gesprochen werden.

    Entpolitisierung der Rechten Angriffe

    Nach Fällen von rechter Gewalt werden in den Gerichtssälen die ursprünglichen Motive für die Delikte oft stark verzerrt. Das war so auch am Göttinger Landgericht bemerkbar: Sowohl während des Verfahrens, als auch bei der Urteilsverkündung wurde das eigentliche Motiv der Täter in den Hintergrund gerückt. Denn offensichtlich hatten die gewaltsuchenden Neonazis mit ihren homophoben Beleidigungen den Angriff regelrecht provoziert. Laut Verteidigung soll hingegen eine beidseitige verbale Auseinandersetzung zum Überfall geführt haben.

    Ähnliches hatte sich beim „Fretterode- Prozess“ ereignet, der im September 2021 begann. In der thüringischen Kleinstadt, nicht weit von Göttingen entfernt, kam es 2018 zu einem brutalen Angriff von vermummten Neonazis auf dokumentierende Journalist:innen. Die Angreifer wurden im Nachhinein als Gianluca B. und Nordulf H. identifiziert. Letzterer ist der Sohn des militanten NPD (heute: Die Heimat)-Kaders Thorsten Heise, der in Fretterode ein Gasthaus betreibt.

    Auch hier gaben sich die Verteidiger der Angreifer große Mühe, den faschistischen Gewaltexzess zu relativieren und zu verdrehen. So wurden die Neonazis als die eigentlichen Opfer inszeniert, die von „der Antifa“ lediglich provoziert wurden. „Die Antifa versuchte er als bundesweit agierende Terrororganisation darzustellen und zu den eigentlichen Tätern zu erklären“, erklärte dazu das “Antifaschistische Bildungszentrum und Archiv Göttingen” (ABAG), welches Vorfälle von rechter Gewalt sammelt und auswertet.

    Die Richterin sah sich am Ende des Prozesses veranlasst, nicht von einem gezielten Angriff auf die freie Presse auszugehen, sondern relativierte die Tat als Auseinandersetzung zweier politischer Lager. Das eigentliche Motiv der Einschüchterung und des Mundtot-Machens kritischer Stimmen wurde im Urteil somit völlig verdreht.

    Daraus resultierte ein lächerlich geringes Strafmaß, mit dem Gianluca B. lediglich zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und Nordulf H. zu 200 Sozialstunden verurteilt wurden. Dies verdanken sie nicht zuletzt ihren Anwälten, die im übrigen einem ähnlichen rechtsradikalen Umfeld wie die beiden Angreifer zuzuordnen sind.

    Rechte Szeneanwälte

    In den beiden genannten Fällen wurden die Täter von Anwälten vertreten, deren reaktionäre Ideologie sich stark mit der von Neonazis deckt. Im Fall des Fretterode-Prozesses wurden die Angreifer zum Beispiel von den Rechtsanwälten Wolfram Nahrath und Klaus Kunze vertreten. Nahrath war bis zum Verbot der “Wiking-Jugend” 1994 ihr Vorsitzender, war für die “Heimattreue Deutsche Jugend” tätig und ist Parteimitglied in der NPD/Die Heimat. Er hat unter anderem schon Ralf Wohlleben im NSU-Prozess vertreten. Dieser war jahrelang gemeinsam mit Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im „Thüringer Heimatschutz“ aktiv und half dem NSU-Trio später dabei unterzutauchen.

    Auch Klaus Kunze ist in der Neonaziszene nicht unbekannt: Er war unter anderem Mitglied in der Partei „Die Republikaner“ und der “Kölner Burschenschaft Germania”. Zudem war er Rechtsbeistand der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck.

    Das Beauftragen von Szeneanwälten ist im Zusammenhang mit Strafverfahren nach rechter Gewalt keine Ausnahme. Sie beeinflussen die juristischen Prozesse maßgeblich und fallen in der Regel durch ihr einschüchterndes Verhalten im Gerichtssaal auf. Dadurch verstärken sie die psychische Belastung für die Betroffenen erneut, obwohl die erneute Konfrontation mit den Tätern im Gerichtssaal für die Opfer ohnehin schon bedrückend ist.

    Im Zusammenhang mit der Täter-Opfer-Umkehr spielen die rechten Anwälte ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die Strategie, die Angreifer als Opfer zu inszenieren, ist inzwischen zur Routine für die meisten rechten Strafverteidiger geworden. Narrative, wie das „der Antifa“ als terroristische Vereinigung, spiegeln die reaktionäre Gesinnung der Anwälte wider und sind ein fester Bestandteil der besagten Strategie.

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