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Dienstag, März 19, 2024
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    30. Jahrestag des Brandanschlags in Solingen – Wer von rechtem Terror spricht, darf über den “Verfassungsschutz” nicht schweigen

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    Am 29. Mai 1993 starben bei einem faschistischen Brandanschlag auf ein Familienhaus in Solingen 5 türkische Mitbürger:innen. Die Ermittlungen zeichneten anfangs noch das Bild von Einzeltätern. Erst später stellte sich heraus, dass die vier Täter häufige Gäste der Kampfsportschule Hak Pao waren, einer Frontorganisation für die verbotene “Nationalistische Front”. Der Leiter der Schule war ein V-Mann des Verfassungsschutzes. Es zeigt sich wieder einmal: Wer von rechtem Terror spricht, darf über die deutschen Geheimdienste nicht schweigen. Ein Kommentar von Rudolf Routhier.

    In der Nacht des 29. Mai 1993 gehen drei Männer in Solingen auf eine Party. Im Laufe des Abends betrinken sie sich und belästigen die anderen Gäste, so dass sie schlussendlich vom Wirt des Ladens verwiesen werden. Hilfe bekommt dieser dabei von zwei jugoslawischen Gästen, die von den betrunkenen Männern für Türken gehalten werden.

    Nach dem Rausschmiss treffen die drei auf einen Bekannten. Mit ihm zusammen planen sie aus Rache einen Brandanschlag auf ein von türkischstämmigen Menschen bewohntes Zweifamilienhaus. Sie dringen in das Haus ein, verschütten Benzin im Hausflur und zünden es mit einem selbstgebauten Brandsatz an. Fünf Menschen sterben: Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç. Weitere 17 Menschen werden verletzt.

    So lautete lange die offizielle Version des Brandanschlags von Solingen. Wie bei so vielen rechten Terroranschlägen davor und danach kam die polizeiliche Untersuchung auf das Ergebnis “Einzeltäter”. Die Morde: ein “tragisches”, aber unvorhersehbares Ende einer durchzechten Nacht.

    Doch schon bald zeigten sich Lücken in der Version der Behörden. So waren die Täter meilenweit von dem anfänglichen Bild der unorganisierten Rassisten entfernt, die sich mit dem Anschlag für einen Rausschmiss rächen wollten. Ganz im Gegenteil.

    Drei der vier waren häufige und gern gesehene Gäste in der Solinger Kampfsportschule “Hak Pao”. Dort gefiel ihnen besonders das “kanakenfreie Training”, wie einer der Täter, Christian B., in seinem Tagebuch notierte. Nach erfolgreicher Ausbildung zum Nahkampf verdingten sich viele der Mitglieder von Hak Pao als Saalschutz und Bodyguards für Prominente der faschistischen Szene. Leiter der Schule war der Kampfsportler Bernd Arthur Günther Schmitt.

    Hak Pao – eine rechte Kaderschmiede

    Innerhalb der rechten Szene in NRW war Schmitt eine feste Größe. Der Box- und Karate-Lehrer und seine Schlägertruppe waren fast so etwas wie eine Eliteeinheit der regionalen Rechten. Nicht zuletzt durch Schmitt hatte sich Anfang der 90er Jahre eine aktive rechte Szene in Solingen herausgebildet. Aus dem Umfeld des Hak Pao gründete er Anfang der 1990er den “Deutschen Hochleistungs- und Kampfkunstverband” (DHKV), eine Frontorganisation der seit 1992 verbotenen “Nationalistischen Front” (NF).

    Die Nationalistische Front war 1985 als faschistische “Kaderpartei” gegründet worden. Ein Großteil der Anhänger stammte aus der Skinhead-Szene. Ein Jahr vor dem Brandanschlag hielt ihr Anführer Meinolf Schönborn einen Vortrag zu “Nationalen Fragen” in den standesgemäß mit Hakenkreuz verzierten Räumen der Hak Pao. Doch die Aktivitäten der NF beschränkten sich nicht nur auf die Kampfsportschule. Auch vor Mord schreckten ihre “Kader” nicht zurück.

    Der verdrängte rassistische Mord an Samuel Kofi Yeboah

    Die Morde der Nationalistischen Front

    Deren Blutspur beginnt in Wuppertal. Dort wollte der 54-Jährige Karl Hans “Charly” Kohn den Abend des 12. November 1992 in der Kneipe “Laternchen” verbringen. Der ausgebildete Fleischer hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, zuletzt arbeitete er für “Bofrost”. Die Kneipe war an diesem Abend fast menschenleer. Außer Kohn befanden sich dort nur die Skinheads Andreas Weber und Michael Senf, beides Mitglieder der NF, sowie der Wirt, ein Freund von Weber und Webers Partnerin.

    Im Laufe des Abends begannen Weber und Senf den ahnungslosen Arbeiter Charly Kohn aufgrund seines jüdisch klingenden Nachnamen zu attackieren, sie schlugen und traten auf ihn ein, bevor sie ihn mit Alkohol überschütteten und in Brand setzen. Der Wirt hatte die beiden zuvor durch den Ausspruch “Macht Auschwitz wieder auf, die Juden müssen brennen” angestachelt. Danach fuhren die Täter in die Niederlande, wo sie den Leichnam von Kohn in einem Waldstück versteckten.

    Doch für die Wuppertaler Polizei und den Staatsschutz war die Tat nur eine “Kneipenschlägerei”. Da war es für die Polizei auch unerheblich, dass Weber der Leiter einer zehnköpfigen Ortsgruppe der NF war, dass sich in seiner Wohnung Propagandamaterial nur so stapelte und der 26-jährige zuvor bereits durch einen tätlichen Angriff auf einen Geflüchteten aus dem Togo aufgefallen war. Die Tat hatte für die Behörden vorgeblich keine politische Dimension. Weber und Senf wurden später nach Jugendstrafrecht zu vierzehn und acht Jahren, der Wirt zu zehn Jahren Haft verurteilt.

    Bei so viel Nachsicht musste man auf den nächsten Mord nicht lange warten. Bereits am 27. Dezember desselben Jahres 1992 gab es auf der Autobahn in der Nähe von Meerbusch das nächste Opfer. Diesmal war Hak Pao sogar direkt beteiligt.

    das Opfer Şahin Çalışır war als Schlosser für Thyssen tätig. Am 27. Dezember war er mit zwei Freunden unterwegs, als drei Solinger Faschisten aus dem Umfeld der Hak Pao sein Auto von der Seite touchieren und in die Leitplanken rammen. Çalışır will flüchten, wird dabei von einem Auto erfasst und getötet. Wieder wollten die Behörden kein politisches Motiv erkennen. Nur einer der Täter wurde wegen fahrlässiger Tötung zu 15 Monaten Haft verurteilt. Dass er als bekennender Faschist bekannt war, wurde vor Gericht ignoriert, die Angehörigen des Opfers hingegen wurden mit Spürhunden durchsucht.

    Viele Antifaschist:innen konnten danach nicht anders, als sich zu fragen, ob nicht mehr hinter der Toleranz der Behörden zur NF und ihrer Frontorganisation Hak Pao steckt. Ihre Antwort bekamen sie erst ein Jahr nach dem Brandanschlag in Solingen, als herauskam, dass Hak Pao-Chef Schmitt ein langjähriger V-Mann des Verfassungsschutzes war.

    Veröffentlichte NSU-Akten: Der Verfassungsschutz hat nicht “versagt”, er hat seine Arbeit gemacht

    Die Nationalistische Front und der Verfassungsschutz

    Die Enthüllung sorgte für einen Skandal, dessen Ausmaße bis heute nicht vollständig geklärt sind. So schrieb der Spiegel damals, dass in Nordrhein-Westfälischen Regierungskreisen ein Papier kursierte, das besagte, dass sogar der DHKV auf Initiative des Verfassungsschutzes gegründet worden sei, sozusagen als Sammelbecken für die regionalen Rechte.

    Der Geheimdienst dementierte dies, Schmitt sei erst ab 1992 für sie tätig gewesen. Bewiesen ist jedoch, dass Schmitt fleißig rekrutierte. So erinnerte sich einer der Mörder, Christian B. später, dass sein erster Kontakt zur Hak Pao auf Einladung Schmitts stattgefunden hatte.

    Trotzdem stellte sich auch der damalige NRW-Innenminister Herbert Schnoor hinter den V-Mann. Dieser habe “sein Vorgehen immer mit dem Verfassungsschutz abgestimmt” und wichtige Informationen, die zur Festnahme der Täter des Brandanschlags von Solingen führten, geliefert.

    Dabei lieferte Schmitt nicht nur “Informationen”, sondern warnte im Verlauf der Ermittlungen zum Brandanschlag erwiesenermaßen auch mehrere Personen über anstehende Hausdurchsuchungen. War dies etwa auch “mit dem Verfassungsschutz abgestimmt?”

    Der Spiegel spekulierte sogar, dass es möglich sei, dass Schmitt die Täter als Bauernopfer den Behörden auslieferte, um mögliche Hintermänner des Anschlags zu vertuschen. Beweise dafür, dass die Tat bei weitem nicht so spontan war, wie zunächst angenommen, gibt es jedenfalls genügend.

    Kurz nach dem Anschlag ließ Schmitt z.B. kistenweise Akten aus dem Hak Pao wegschaffen. Die von den Nachbar:innen gerufene Polizei ließ ihn und sein Auto ohne Kontrolle passieren. Fast ein Jahr später fand die Polizei zumindest einen Teil der Akten im Keller von Schmitts Schwiegervater. Darunter waren Anleitungen zum Bau von Molotow-Cocktails, außerdem Lageskizzen von größtenteils von Migrant:innen bewohnter Häuser in Bonn, Wuppertal und Köln. Das Gericht lehnte den Fund jedoch als für den “Prozess nicht wesentlich” als Beweismittel ab.

    Über das genaue Ausmaß der Verbindungen zum Verfassungsschutz lässt sich bislang nur spekulieren, die Akten sind weiterhin hinter Schloss und Riegel, doch eins ist klar: Nicht nur Schmitt, sondern die ganze Nationalistische Front verdanken der Behörde so einiges. Seit ihrer Gründung wimmelte es dort nämlich nur so von V-Männern.

    Zu ihnen gehörten unter anderem Peter Weinmann, Gründungsmitglied der NF-Vorläuferorganisation “Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit”. Auch Norbert Schnelle war als V-Mann in der NF aktiv, er beteiligte sich an mehreren Straftaten, warnte vor Hausdurchsuchungen und finanzierte durch sein vom Verfassungsschutz gezahltes Honorar den Aufbau des NF maßgeblich mit.

    Ähnlich agierte auch Michael Wobbe. Sein Auftrag bestand speziell darin, als Reisekader für die Organisation Spenden zu sammeln und Ortsgruppen aufzubauen. Scheinbar gehört es auch zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes, Unterstützung beim Aufbau und der Finanzierung faschistischer Terrorgruppen zu leisten. Selbst Wobbe gab später zu, dass einige Straftaten des NF ohne ihn nicht begangen worden wären. – Da hat der “Rechtsstaat” wieder ganze Arbeit geleistet.

    Alle zusammen gegen den Faschismus!?

    Der Verfassungsschutz: Ein faschistischer Traditionsverein?

    Seit seiner Gründung durch den SA-Mann Hubert Schrübbers, der in seinen Geheimdienst gezielt alte Freunde aus der SS und dem SD einstellte, illustrieren die Aktivitäten unseres Inlandsgeheimdienstes “Verfassungsschutz” so gut wie kaum eine andere Behörde die Kontinuität und den Einfluss faschistischer Netzwerke innerhalb des Staates.

    Wenn es um die faschistische Bewegung ging, war der Verfassungsschutz immer vorne dabei und leistete, wenn nötig auch Aufbauarbeit. Sehr dankbar sind ihm zum Beispiel die NPD-Führungsmitglieder Wolfgang Frenz und Udo Holtmann, die beide mit Zustimmung ihrer Partei als V-Männer arbeiteten. Frenz sagte später: “Ohne das Geld des Verfassungsschutzes hätte die NPD in Nordrhein-Westfalen gar nicht aufgebaut werden können”.

    Dass diese mit ihrer neuen Gesinnung in ihrer Behörde bestimmt nicht aneckten, beweist Andreas Temme, von den Kolleg:innen auch “klein Adolf” genannt. Dieser leidenschaftlicher Sammler von SS-Memorabilia war nebenbei noch Führungsagent von einem der über 40 V-Männer, die sich im Umfeld der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund  (NSU) aufhielten. Seine Handydaten beweisen außerdem noch die Anwesenheit an mehreren Tatorten der Terrorgruppe.

    Auch V-Mann Thomas Corelli gehörte zum Umfeld der Gruppe. Er versteckte das Trio bei sich zu Hause und verbreitete bereits 2005 eine CD mit der Aufschrift “NSU/NSDAP”. Im Laufe der NSU-Ermittlungen starb er kurz vor seiner Zeugenaussage an zuvor  nicht diagnostizierter Diabetes.

    Wir sehen also mittlerweile sehr genau, wie der Brandanschlag von Solingen keiner der berühmten “Einzelfälle” war. Auch sind die dubiosen Verstrickungen des Verfassungsschutzes in dem Fall eben keine Ausnahme.

    Daran sollten wir uns erinnern, wenn Politiker:innen heute das Gedenken zynisch für ihre Zwecke instrumentalisieren. Im Kampf gegen den Faschismus kann dieser Staat kein verlässlicher Verbündeter sein. Gerechtigkeit für die Morde in Solingen und ein Ende des faschistischen Terrors können schlussendlich nur wir selbst erkämpfen.

    • Perspektive-Autor seit Sommer 2022. Schwerpunkte sind rechter Terror und die Revolution in Rojava. Kommt aus dem Ruhrpott und ließt gerne über die Geschichte der internationalen Arbeiter:innenbewegung.

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