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Montag, April 29, 2024
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    Was bedeutet der mutmaßliche Tod des Oligarchen Jewgeni Prigoschin?

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    Der Wagner-Chef Prigoschin und zwei weitere Führungspersonen der Wagner-Gruppe fielen Mittwochabend wahrscheinlich einem Flugzeugabsturz zum Opfer. Mit ihnen starben sieben weitere Insassen. Das bestätigten bislang westliche Medien und Geheimdienste, der russische Präsident Putin sowie der Wagner-nahe Telegram-Kanal „Grey Zone“. Was bisher bekannt ist und was dies für den russischen Imperialismus nun bedeutet. – Eine Einschätzung von Ahmad Al-Balah.

    Zwei Flieger starteten am Mittwochabend von Moskau nach Sankt Petersburg. Im ersten sollen der Passagierliste zufolge zehn Personen gesessen haben: darunter Jewgeni Prigoschin, Dmitry Utkin als leitender Kommandant der Wagner-Gruppe und Valery Chekalov mit dem Rufzeichen “Rover”, der für die Logistik des Unternehmens zuständig war.

    Dieser Privatjet ist nach herrschender Meinung durch Fremdeinwirkung abgestürzt – entweder durch Sabotage, Detonation oder Abschuss. Zehn Leichname wurden gefunden, jedoch so stark versehrt, dass DNA-Gutachten erforderlich sind. Der Kreml hat nun eine Untersuchungskommission beauftragt, sowohl was die Leichname als auch die Ursachen betrifft. Sie wird zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit ermitteln.

    Es gibt demnach noch keinen offiziellen Bericht über den Tod der Menschen an Bord, ebenso wenig eine Erklärung des Rats der Kommandeure der Wagner-Gruppe. Der Wagner-nahe Telegram-Kanal „Grey Zone“, in dem Prigoschin zuvor häufiger Videos veröffentlichte, schrieb bereits Mittwochabend von einer Ermordung Prigoschins. Präsident Wladimir Putin hielt gestern eine Traueransprache, bei der er auch Prigoschins gedachte – als engem Vertrauten, der seine Fehler hatte.

    Prigoschins bürgerlicher Aufstieg und Fall

    Prigoschin war als junger Mann in den 1990er Jahren ein Kleinkrimineller in Sankt Petersburg. Nach langjähriger Haft baute er dann mithilfe der Petersburger Mafia kleinere Buden bis hin zu schickeren Restaurants auf, in denen auch der damals stellvertretende Bürgermeister Wladimir Putin verkehrte.

    Darüber soll Prigoschin an Catering-Deals für nahezu sämtliche Teile des Staatsapparats gekommen sein. Russische Steuergelder wurden unter Putin so in die privaten Taschen seiner engen Vertrauten gesteckt, die damit Teil der herrschenden russischen Oligarchen-Klasse wurden und deren Machenschaften im Verdeckten finanzierten.

    In diesen Kreisen wurde Prigoschin ermuntert, eine Söldnertruppe angelehnt an die russische Armee aufzustellen: „Die Wagner-Einheit wurde gegründet, weil der Militärgeheimdienst GRU mit seinen Spezialkräften, die im Ausland verdeckt Krieg führen, einen besseren Tarnmantel brauchte“, so der westliche Militärexperte Gustav Gressel. 

    Prigoschin wurde also eher als erfahrener Mafioso benötigt, der die Finanzierung organisierte und den verdeckten Zahlungsverkehr der Truppe abwickelte. Für Putin wurde die Wagner-Gruppe so zu einem der wichtigsten Machtmittel auf der internationalen Bühne: „In Syrien oder Libyen hatte am Ende aber immer die russische Armee das Sagen, auch wenn Putin das unter Verweis auf die angebliche Privatarmee abstritt.“, unterstreicht Gressel.

    Ihren ersten Einsatz hatten die Söldner 2014 auf der Krim. Einer ihrer Kommandeure war Dmitrij Utkin, ein ehemaliges Mitglied der GRU-Spezialkräfte. Dem Musikgeschmack des Tschetschenien-Kriegsveteranen und Neonazis verdankt die Söldnertruppe ihren Namen: dem deutschen Komponisten, Nationalisten und Antisemiten Richard Wagner.  

    Russland: Putsch, Machtkampf oder doch eine Täuschung?

    Dann spitzte sich der Konflikt zwischen Prigoschin und Putin zu: Seit dem Frühjahr wetterte Prigoschin in der Ukraine gegen eine mangelnde Versorgung durch die russische Armee. Seine Söldner würden als „Kanonenfutter“ benutzt. Vor zwei Monaten drohte Prigoschin Putin gar mit dem Sturm auf Moskau. Dabei übernahmen seine Kämpfer die Kontrolle über die südrussische Stadt Rostow am Don und rückten schon auf Moskau vor.

    Putin bezeichnete dies zunächst als Verrat, der eine harte Reaktion nach sich ziehen würde. Doch dann die überraschende Kehrtwende: Der Aufstand wurde durch eine ‘Vereinbarung’ beigelegt. Das Präsidialamt erklärte, ein Strafverfahren gegen Prigoschin wegen bewaffneter Meuterei werde fallen gelassen, er und einige seiner Kämpfer würden nach Belarus gehen. Dies befolgten jedoch weder Prigoschin, der weiter zwischen Afrika und Russland pendelte, noch seine Wagner-Söldner, die sich nur z.T. nach Belarus absetzten. Der Konflikt schwelte demnach weiter.

    Die Konsequenzen aus imperialistischen Machtkämpfen

    Natürlich kursieren derzeit mehrere Versionen, wer für den mutmaßlichen Tod von Prigoschin verantwortlich sein könnte: Hat ihn Putin ermorden lassen? Hat Frankreich seine Finger im Spiel? Oder lebt Prigoschin vielleicht sogar noch?

    Was fest steht: Prigoschin ist erst einmal weg vom Fenster, es gibt die Unruhen innerhalb der Wagner-Gruppe, und es ist noch nicht klar, wer die Gruppe von nun an anführt. Jedoch ist die mit Putin im Konflikt stehende bürgerliche Partei in Person Prigoschins weg. Es ist unklar, inwiefern Putin und die russische Elite nun mehr Kontrolle über die Wagner-Gruppe besitzen – oder sogar weniger.

    Die neue Führung der finanziell abhängigen Wagner-Gruppe wird entweder der herrschenden russischen Klasse direkt angehören und in ihrem Interesse agieren, soviel ist klar. Weder für die russische noch die internationale Arbeiter:innenklasse hat sich mit dem mutmaßlichen Tod der Figur  Prigoschin irgendetwas handfest verändert.

    Doch gleichzeitig lässt sich ablesen, dass die mutmaßliche Ermordung eines prominenten führenden Kapitalisten und Funktionärs wie Prigoschin auf eine Zuspitzung der Widersprüche im bürgerlichen Lager hindeutet. Kurz und zugespitzt gesagt, ist er vermutlich entweder dem imperialistischen Konflikt zwischen den herrschenden Klassen Russlands und der NATO zum Opfer gefallen oder dem Machtkampf innerhalb der russischen Bourgeoisie.

    Denn diese Entwicklung ist typisch für offen im Konflikt stehende bürgerliche Lager – egal ob national oder international. Die russische Führung hat eine lange Liste von Attentaten gegen Spione und Militär-Funktionäre feindlicher Staaten – ebenso wie beispielsweise die USA (siehe die Ermordung des iranischen Generals Soleimani im Januar 2020).

    Durch den Machtkampf bürgerlicher Parteien schwächen sich diese gesetzmäßig gegenseitig. Das äußert sich häufig auch in verstärkten Schwierigkeiten der herrschenden Klasse eines Landes, die nationale Arbeiter:innenklasse (inklusive ihrer Soldat:innen) zu unterdrücken.

    Im Iran kam es infolge der Zuspitzung der Widersprüche im September 2022 etwa zu den „Jin, Jiyan, Azadî“-Aufständen, die nur mit Mühe von der angeschlagenen herrschenden Klasse im Iran niedergeschlagen werden konnten.

    Die Schwächung Russlands im Verlauf des Ersten Weltkriegs nutzte beispielsweise der dortigen sozialistischen Revolution durch die Arbeiter:innenklasse unter Führung der Bolschewiki. Wie genau sich der verhältnismäßig unbedeutende Tod Prigoschins in der Ukraine oder Russland niederschlagen wird, bleibt aber abzuwarten.

    Die Stimmung in der russischen Bevölkerung zumindest sei derzeit von starker Verunsicherung geprägt, berichtet der Russland-Korrespondent des zdf. Auch die Kampfmoral der russischen Soldat:innen, speziell in der Wagner-Gruppe, habe stark gelitten. Mitglieder und Anhänger der Wagner-Gruppe hätten in Moskau bereits zum Aufstand aufgerufen. Die Bildung einer Protestbewegung gelte angesichts der Stärke des russischen Repressionsapparats allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch als recht unwahrscheinlich.

    • Ahmad Al-Balah ist Perspektive-Autor seit 2022. Er lebt und schreibt von Berlin aus. Dort arbeitet Ahmad bei einer NGO, hier schreibt er zu Antifaschismus, den Hintergründen von Imperialismus und dem Klassenkampf in Deutschland. Ahmad gilt in Berlin als Fußballtalent - über die Kreisliga ging’s jedoch nie hinaus.

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