`
Montag, April 29, 2024
More

    Israelische Bodenoffensive: „Wir werden Gaza in eine verlassene Insel verwandeln“

    Teilen

    Israel hat die seit Wochen angekündigte Bodenoffensive begonnen. Die weitere internationale Isolation spielt für die herrschende rechte Regierung in Israel nur bedingt eine Rolle. Ministerpräsident Netanjahu erklärte in einer Kriegsrede, dass man nun den zweiten „Unabhängigkeitskrieg“ nach dem ersten von 1948 führe. Damals kam es zur palästinensischen „Nakba“, der Vertreibung. – Eine Einschätzung von Gillian Norman.

    Am Freitag, den 27. Oktober, hat die israelische Armee eine „signifikante Erhöhung der Bodeneinsätze“ gegen den Gaza-Streifen gestartet. Israel hat daraufhin in der Nacht von Freitag auf Samstag nach eigenen Angaben 150 unterirdische Ziele wie Tunnel, Bunker und Infrastrukturin dem kleinen Küstenstreifen angegriffen. Das israelische Militär erklärte, dass dabei mehrere Kommandeure der islamisch-fundamentalistischen Hamas getötet worden seien. Zudem kam es zu einer Reihe an Bodengefechten im Norden des Gaza-Streifen.

    Genauere Informationen über die Angriffe und die Zahl der Toten und Verletzten gibt es allerdings keine. Kurz vor Beginn der Offensive wurden das gesamte Internet und der Mobilfunk durch militärische Schläge unterbrochen. Die „Weltgesundheitsorganisation“ (WHO) und die NGO „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) teilten mit, dass sie seit Freitagabend keinen Kontakt zu ihrem Personal und ihren medizinischen Einrichtungen in Gaza haben.

    EIL: Israelisches Militär beginnt mit Bodenoperationen in Gaza – spontane Proteste weltweit

    Vorbereitung einer breiten Bodeninvasion

    Die Israeli Defence Forces (IDF) nutzten neben Raketenbeschuss einzelne Invasionen, um Sensoren zu platzieren und Informationen zu sammeln. All dies wird als Vorbereitung auf eine breite Bodeninvasion gewertet.

    Das israelische Militär ebnet mit den Angriffen den Boden, um ein ebenes Schlachtfeld für seine Bodeninvasion zu haben, da die gegnerischen bewaffneten Kräfte im Guerilla-Stadtkrieg einen Vorteil haben. Damit soll die Zahl der eigenen Opfer minimiert werden. Bereits in den Vorbereitungen der Offensive gab es den Versuch, die verschiedenen bewaffneten Fraktionen von der Bevölkerung zu isolieren, sie aus den Tunneln zu jagen und in Chaos zu versetzen.

    Einige israelische Minister:innen hatten in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass die Hamas ausgelöscht werden müsse und dabei jegliche Opfer in Kauf genommen würden. Die eingeholten Informationen und der internationale Druck sind also vermutlich kein ausschlaggebender Faktor für den Beginn einer Offensive, da sich die gesamte Regierung sogar öffentlich darauf eingeschworen hat.

    Netanjahus Kriegsrede

    Am Samstagabend hielt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dann eine klare Kriegsrede. Er sprach vom „menschlichen Kampf gegen die Barbarei“. In der religiös aufgeladenen Ansprache erklärte er, man müsse sich daran erinnern, „was Amalek dir angetan hat“. Die Amalekiter gelten im Alten Testament als räuberisches Nomadenvolk, das im Süden Palästinas lebte und das es als Erbfeind der Israeliten mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte. So heißt es im Ersten Buch Samuel, Kapitel 15,3: „Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!“

    Es handele sich um die „Mission meines Lebens“ erklärte Netanjahu. Das Ziel sei ein „zweiter israelischer Unabhängigkeitskrieg“. Der erste „Unabhängigkeitskrieg“ war der israelisch-arabische militärische Konflikt 1948, der zur israelischen Staatsgründung führte. Dieser umfasste auch die als „Nakba“ (dt. Katastrophe) bezeichnete Flucht und Vertreibung von rund 700.000 Palästinenser:innen.

    Netanjahu erklärte, dass dieser Krieg „lang und hart“ werden würde. Was das bedeuten könnte, sprach der Ex-Preminerminister Naftali Bennet in einem Interview mit der Financial Times aus: „Der Krieg könnte länger gehen als westliche Kräfte erwarten, und die Bewohner von Gaza könnten gezwungen sein, in Südgaza zu bleiben – von sechs Monaten bis fünf Jahre oder länger.“

    Ein Genozid als Ziel der israelischen Rechten

    Die aktuelle Regierung in Israel ist die am weitesten rechts stehende Regierung Israels, mit unbestritten faschistischen Ministern wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich. Bereits vor dem 7. Oktober wurden Auslöschungsfantasien offen geäußert, beispielsweise durch Smotrich, der sagte, dass es „so etwas wie Palästinenser nicht gibt, weil es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt“. Die vergangene Zuspitzung der Unterdrückung gegenüber Palästinenser:innen führte dazu, dass sogar deutsche Medien die aktuelle Regierung als „rechtsextrem“ bezeichneten.

    Am 7. Oktober nun drangen verschiedene palästinensische Kommandos aus Gaza in das israelische Staatsgebiet ein. Dabei kam es nach offiziellen israelischen Angaben zu über 1.400 Toten. Die israelische Tageszeitung Haaretz sprach von rund 683 Toten, darunter etwa die Hälfte Militärs und die andere Hälfte Zivilist:innen. Außerdem musste man antiisraelische Massaker verzeichnen, wie etwa auf einem Musik-Festival.

    Daraufhin setzte Netanjahu eine Kriegsregierung ein, in die er auch die führenden Köpfe der Opposition einbezog. Seitdem treten israelische Minister:innen allerdings mit noch weitaus chauvinistischeren Aussagen auf, und es wurde begonnen, einen Genozid an den Palästinenser:innen ideologisch vorzubereiten und zu rechtfertigen. Der Verteidigungsminister Yoav Gallant z.B. sprach am Tag nach dem Angriff der Hamas davon, dass Israel „gegen menschliche Tiere kämpft und dementsprechend handelt”. Auch Ghassan Alian, Hauptgeneral der IDF, sagte: „Menschliche Tiere müssen wie solche behandelt werden. Du wolltest die Hölle, du bekommst die Hölle.“

    Die Drohungen richteten sich dabei nicht nur an die militärischen Einheiten der Hamas und anderer Organisationen, sondern auch an die Zivilbevölkerung. Israels Präsident Isaac Herzog bestritt, dass „die Zivilbevölkerung nicht informiert und nicht beteiligt sei“ und rechtfertigte damit die großflächigen Angriffe, die bereits zu 7.000 Toten, darunter etwa 2.500 Kinder, geführt haben. Laut der Knesset-Abgeordneten Merav Ben-Ari hätten es sich „die Kinder in Gaza selbst zuzuschreiben.“

    Deutsche Medien relativieren die Angriffe

    In vielen westlichen Medien wurde von Anfang an kaum über die Toten auf palästinensischer Seite berichtet. Bei der App „upday“ des Medienkonzerns „Axel Springer“ – zu dem auch die BILD und WELT gehören – gab es sogar Anweisungen, tote Zivilist:innen in Gaza herunterzuspielen, die Opfer der israelischen Seite besonders hervorzuheben und keine Schlagzeilen zu bringen, die pro-palästinensisch gedeutet werden könnten. Eine solche Berichterstattung wünschte sich auch Yair Lapid, der ehemalige Ministerpräsident Israels: „Wenn die internationalen Medien objektiv sind und beide Seiten zeigen, dient es der Hamas.“

    Nach dem Angriff auf das Ahli Arab-Krankenhaus spitzte sich die einseitige Berichterstattung weiter zu, da nun jegliche Zahlen, die die Hamas über palästinensische Opfer veröffentlichte, angezweifelt wurden. Auch US-Präsident Joe Biden sagte am Mittwoch, dass er den Opferzahlen der Palästinenser:innen nicht glaube, obgleich internationale humanitäre Organisation sie als akkurat und verlässlich einschätzten. Das palästinensische Gesundheitsministerium veröffentlichte dazu sogar die Namen der Getöteten.

    Dass sich hohe Opferzahlen auf israelischer Seite gut in die aktuelle militärische Strategie einbetten, zeigen weitere Aussagen von israelischen Minister:innen oder Militärangehörigen: „Die Betonung liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.“ oder „Wir werden Gaza in eine verlassene Insel verwandeln.“

    Zunehmende internationale Isolation

    Bereits in der Vergangenheit hatten die USA versucht, die israelische Regierung in Schach zu halten, um einen regionalen Krieg zu verhindern. Der eigene Fokus sollte von Westasien auf einen zukünftigen Krieg mit China verschoben werden, wozu in den letzten Jahren die Militärpräsenz in anderen Krisengebieten deutlich zurückgefahren wurde, z.B. durch den Abzug der Truppen aus Afghanistan.

    Rechtsentwicklung in Israel – wie soll man die Haltung der USA und Deutschlands verstehen?

    Dies scheint auch weiterhin das Ziel der US-amerikanischen Strategie zu sein. Zu diesem Zweck wurden 900 Soldaten für die Luftverteidigung, aber auch für gezielte Angriffe zur Eindämmung und Abschreckung eingesetzt. Letztendlich ist ihr Ziel, einem Krieg mit dem Iran vorzubeugen, da dieser zu viele Kräfte binden würde. Allerdings gibt es auch innerhalb der USA widersprüchliche Positionen: John Kirby, der Pressesekretär des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, erklärte beispielsweise, dass es „keine roten Linien” für Israel gebe.

    Andere Länder stellen sich jedoch deutlicher gegen die Angriffe Israels, was zu einer weiteren Spaltung innerhalb internationaler Bündnisse führt: Die UN-Vollversammlung z.B. stimmte für eine “sofortige humanitäre Waffenruhe” in Gaza. 120 Länder stimmten dafür, 14 dagegen und 45 enthielten sich. Und der israelische Außenminister Eli Cohen nannte die UN-Forderung nach Waffenstillstand verabscheuungswürdig. Auch innerhalb der EU zeigt sich eine Spaltung: Während Frankreich für die Resolution stimmte, enthielten sich Deutschland, Italien und Großbritannien. Neben den USA votierte auch Österreich gegen die Erklärung. Das zeigt bereits eine deutliche internationale Isolation der israelischen Position.

    Der mächtigere UN-Sicherheitsrat, dessen Resolutionen bindend sind, war zuvor mehrfach an der Verabschiedung einer Resolution mit humanitärem Fokus zur Situation im Gazastreifen gescheitert. Dort treffen besonders die widersprüchlichen Interessen zwischen USA, China und Russland aufeinander.

    Begrenzungen in Israels Strategie

    Auch wenn Israel die Forderungen der EU und der UN ignoriert und eine Einmischung der USA in die eigenen Pläne verhindern will, gibt es mehrere limitierende Faktoren in der weiteren Strategie Israels:

    • Um die Unterstützung der USA weiterhin zu gewährleisten, ist es wahrscheinlich, dass sich Israel mit Angriffen gegen die Hisbollah im Libanon zurückhält, da diese eng mit der iranischen Regierung verbunden ist, was sonst zu einer weiteren Eskalation führen könnte.
    • Daneben ist es sowohl für die innenpolitische Stabilität als auch weitere internationale Unterstützung wichtig, dass die Geiseln befreit und nicht durch israelische Angriffe getötet werden. Unter den insgesamt 229 Geiseln befinden sich auch deutsche und US-amerikanische Staatsbürger:innen. Die Hamas spricht davon, dass bereits 50 Geiseln durch israelischen Beschuss getötet wurden.
    • Dazu kommt, dass Israel weiterhin sein Narrativ der Verteidigung aufrechterhalten muss. Dies wird zunehmend schwieriger, wenn unzählige palästinensische Zivilist:innen getötet werden und sich deshalb der internationale Druck erhöht.
    • Gleichzeitig haben sich israelische Politiker:innen öffentlich weit aus dem Fenster gelehnt und können nun nicht so einfach in Verhandlungen mit der Hamas treten, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Mit Katar als Vermittler wurde bereits versucht, einen Deal zwischen Israel und der Hamas über einen Gefangenenaustausch auszuhandeln. Jedoch konnte aufgrund unvereinbarer Interessen keine Einigung erzielt werden.

    Dass eine groß angelegte Bodenoffensive stattfinden wird, ist sehr wahrscheinlich, auch wenn die Widersprüche wachsen und die internationale Unterstützung schwindet. Über den Zeitpunkt und das Ausmaß kann zurzeit allerdings nur spekuliert werden.

    • Schreibt seit 2022 für Perspektive und ist seit Ende 2023 Teil der Redaktion. Studiert Grundschullehramt in Baden-Württemberg und geht früh morgens gerne eine Runde laufen.

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News