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Freitag, Mai 3, 2024
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    Krieg in Israel und Palästina – Wie ist die aktuelle Lage einzuschätzen?

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    Die palästinensische Militäroffensive aus Gaza hat ein seit Jahrzehnten nicht dagewesenes Ausmaß. Die israelische Regierung kündigt massive und beispiellose Vergeltungsschläge an. Eine weitere Ausdehnung der palästinensischen Kämpfe ist möglich, aber auch in Gaza droht ein Massaker. – Ein Kommentar von Fridolin Tschernig.

    Es ist richtig, dass am 7. Oktober in den frühen Stunden eine palästinensische, militärische Koalition unter Führung der Hamas in eine militärisch-taktische Offensive gegen Israel gegangen ist – und doch kann die aktuelle Situation und der nun eskalierende Krieg zwischen Palästina und Israel nicht aus dem historischen Zusammenhang gerissen eingeordnet werden.

    Seine Vorgeschichte ist über 70 Jahre lang, denn seit über 70 Jahren unterdrückt der israelische Staat die Palästinenser:innen. Die herrschenden israelischen Kapitalist:innen beuten – neben den eigenen israelischen Arbeiter:innen – auch große Teile der palästinensischen Bevölkerung direkt oder indirekt aus. Vor allem aber legitimieren sie mit nationalistisch-zionistischen und religiösen Erklärungsmustern die andauernde Vertreibung und Diskriminierung der Palästinenser:innen – und im Zusammenhang damit die Ausweitung der zionistischen Siedlungen.

    Nationale Unterdrückung in Palästina

    Heute stehen in ganz Palästina zwischen illegalen Ansiedlungen zionistischer Siedler:innen und palästinensischen Wohngebieten Grenzzäune, Mauern und militärische Checkpoints. Niemand kommt hier unregistriert und unbeobachtet hindurch. Dazu nutzt der israelische Staat seine weitgehende Kontrolle über die Trinkwasserzufuhr, zerstört aktiv Infrastruktur und Wohnhäuser von Palästinenser:innen und schickt Siedler, um genau dieses Land danach zu besetzen. Somit führt der israelische Staat eine geplante zionistische Landnahme des gesamten Gebiets durch. Noch zugespitzter ist die Situation im Gaza-Streifen, von dem aus die Militäroperation am 7. Oktober begann, und der nicht selten in zutreffender Weise als größtes Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet wird.

    Dazu kommt die massive Gewalt, die auf israelischem Staatsgebiet und in den besetzten Gebieten gegen Widerständige und gegen alle Teile der palästinensischen Bevölkerung gerichtet ist. Verstärkung erfährt sie durch die informellen Teile der israelischen Streitkräfte, die durch israelische paramilitärische Siedler:innen gestellt werden. Durch sie sind gewalttätige Pogrome gegen Palästinenser:innen – gerade unter dem Schutzschirm der aktuellen israelischen Regierung – Alltag geworden.

    Politische Krise in Israel

    Die Situation in Palästina hatte sich zuletzt immer weiter zugespitzt. Mit der extrem reaktionären Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu verschärfte der israelische Staat die Unterdrückung weiter. Spätestens seit Beginn des Jahres entwickelte sich in Israel in deren Verlauf eine politische Spannungssituation, bei der sich zunehmender Widerstand von innen und außen regte.

    Seit Beginn des Jahres versucht die Regierung, an der sich auch Faschist:innen wie Itamar Ben-Gvir beteiligen, eine Veränderung des Justizsystems in Israel durchzusetzen. Dies ist jetzt im Juli auch gelungen – trotz massivster Proteste in Israel selbst. Dadurch können das Parlament und die Regierung am Justizsystem vorbei regieren. Das höchste Gericht des Landes wurde faktisch entmachtet, und noch bestehende Überbleibsel einer bürgerlichen Demokratie – die ohnehin nur für israelische Staatsbürger:innen bestanden – wurden weiter demontiert.

    Verschärfte Unterdrückung in Palästina

    Gleichzeitig tritt diese Regierung auch offensiver gegenüber den unterdrückten Palästinenser:innen auf. Welche Konsequenzen das hat, konnte an den zahlreichen Militäroperationen und Attentaten der israelischen Armee IDF („Israel Defence Forces“) beobachtet werden. Diese wurden mit einer Härte durchgeführt, die seit der 2. Intifada (Arabisch für „Aufstand“) nicht mehr zu sehen war.

    Immer wieder stießen die israelischen Streitkräfte in palästinensische Gebiete vor und ermordeten gezielt palästinensische Kämpfer:innen der neuen, politisch ungebundenen Organisation „Lion´s Den“ oder des fundamentalistischen „Islamischen Dschihad“. Außerdem kam es zu Verwüstungen durch israelische paramilitärischen Siedler:innen, die ganze Straßenzüge verkohlt zurückließen.

    Die palästinensische Offensive

    Dies war die Situation, in der sich die palästinensische Bevölkerung in den letzten Wochen und Monaten befand. Gestern, am 7.10., startete dann ein Bündnis verschiedener palästinensischer Organisationen eine militärische Kommando-Operation auf israelischem Gebiet, flankiert durch Beschuss mit einigen tausend Raketen.

    Nach jetzigem Stand wurden über 700 israelische Staatsangehörige getötet. Das sind mehr als doppelt so viele Todesopfer auf israelischer Seite wie in den letzten 15 Jahren zusammen. Darunter sind mindestens 30 israelische Polizist:innen und höhere Militärs. Außerdem wurden zahlreiche israelische Militärangehörige, aber auch Zivilist:innen entführt, möglicherweise um sie gegen palästinensische Gefangene auszutauschen.

    An dem Kampf beteiligen sich ausnahmslos alle Widerstandsorganisationen der Palästinenser:innen wie Hamas, Islamischer Dschihad, PFLP oder „Lions Den“. Auch, dass der Iran massiv an der Vorbereitung dieser Operation beteiligt war, wurde mittlerweile von der Hamas offen zugegeben. Zumindest diesem Unterstützer der Militäraktion geht es sicherlich nicht ehrlich um die palästinensische Sache, sondern um die Ausweitung des eigenen Einflusses und Ablenkung der innenpolitischen Krise im Iran selbst.

    Die deutsche Bundesregierung und auch Ursula von der Leyen (CDU) als Vorsitzende der EU-Kommission reagierten auf diesen Angriff wie üblich: Sie solidarisierten sich einseitig mit dem israelischen Staat und erklärten, dass Israel jedes Recht habe, sich gegen den „Terror“ zu verteidigen. Gerade in Deutschland wird dieser Standpunkt oft mit der besonderen historischen Schuld, die diese Nation durch den Holocaust auf sich geladen hat, begründet.

    Es stimmt, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung passiv geblieben ist, während die Nazis politische Gegner:innen, Homosexuelle, Behinderte, Angehörige anderer Völker und vor allem Jüd:innen bestialisch ermordeten und die ganze Welt in die Katastrophe des II. Weltkriegs stürzten. Daraus aber abzuleiten, dass wir jedes Verbrechen des israelischen Staates gutheißen müssen, ist einfach nur eine absurde Verkehrung von Täter und Opfer. Viel eher müsste unsere Schlussfolgerung aus der deutschen Geschichte das genaue Gegenteil zur Aussage von der Leyens (CDU) sein: Die palästinensische Bevölkerung hat das legitime Recht, für seine Befreiung vom israelischen Apartheidsregime zu kämpfen.

    An dieser grundsätzlichen Haltung darf sich auch nichts ändern. Zugleich kritisieren wir als fortschrittliche und sozialistische Kräfte in Deutschland natürlich die nationalistisch-reaktionären Kräfte wie die Hamas. Diese Kritik ist vor allem deshalb notwendig, weil die Hamas in ihrer Politik und ihren militärischen Aktionen auf einen palästinensischen Staat unter islamisch-fundamentalistischem Banner abzielt und eben nicht auf die Verbrüderung der Palästinenser:innen mit anderen Nationen der Region einschließlich der israelischen. Gerade der verbreitete Antisemitismus unter verschiedenen islamisch-fundamentalistischen Kräften verhindert dies langfristig.

    Für fortschrittliche und säkulare Kräfte muss klar sein, dass eine Stärkung fundamentalistischer Kräfte bedenklich ist. In der iranischen “Revolution” von 1979 wurden beispielsweise nach der Machtübernahme durch die schiitisch-fundamentalistischen Kräfte tausende Kommunist:innen teils öffentlich hingerichtet, von den regelrechten Verhaftungsorgien durch die Revolutionsgarde und der strengen Kleiderordnung für Frauen ganz zu schweigen. Dieser Gefahr müssen sich linke Kräfte immer bewusst sein.

    Ein Ausdruck dieser Gefahr sind auch antijüdische Massaker, wie sie nach aktuellen Berichten etwa auf dem Re’im-Musikfestival am 7. Oktober stattgefunden haben. Augenzeugen berichten davon, dass es teilweise auch zu Vergewaltigungen kam bevor Besucherinnen des Festivals getötet wurden. Die Opfer werden laut angaben israelischer Community-Organisationen vor Ort auf rund 260 Personen geschätzt.

    Israelische Reaktion

    Kurz nach den ersten Angriffen gestern Morgen reagierte die israelische Regierung mit einer offiziellen Kriegserklärung gegenüber der Hamas. Darin kündigte sie an, den Gaza-Streifen bombardieren zu wollen und die Hamas „endgültig zu schlagen“. Konsequenzen daraus war eine erste größere Gegenoffensive, bei der die IDF den Gaza-Streifen unter Raketen-Dauerbeschuss stellte. Dazu wurde in diesen Gebieten der Strom abgestellt. Bisher wurden dabei 350 Palästinenser:innen getötet. Ziele sind sowohl militärische Stützpunkte der Hamas wie auch zivile Orte, wobei dies in den seltensten Fällen überhaupt zu trennen ist.

    Gleichzeitig nahmen bewaffnete Siedler:innen die Kriegserklärung zum Anlass, auch im Westjordanland aktiv zu werden. Zusammen mit israelischen Soldat:innen griffen sie palästinensische Wohngebiete an und töteten 6 weitere Palästinenser:innen. Als Reaktion darauf formierte sich auch hier der teils bewaffnete Widerstand an über 50 Orten. Eine Eskalation im Westjordanland scheint also momentan durchaus möglich.

    Derweil erklärten große Teile der israelischen Opposition im Parlament bereits am 7. Oktober ihre Loyalität gegenüber der aktuellen Regierung und versprachen, die Oppositionsarbeit für die Dauer des Krieges mit der Hamas faktisch einzustellen. Trotz des Verlaufs der Kämpfe am 7. Oktober, die für einen Staat wie Israel eigentlich eine Blamage darstellen, konnte die kriselnde Netanjahu-Regierung also bereits politischen Gewinn aus der Situation ziehen.

    Entwicklung der Kämpfe

    Eine weitere Gefahr für die Ausweitung der Kämpfe birgt eine mögliche Invasion Israels in den Gaza-Streifen. Der Premierminister Netanyahu sprach schon davon, den Gaza-Streifen in eine „verlassene Insel“ verwandeln zu wollen. Wie dieses Ziel erreicht werden soll, ist unklar. Ob es sich vielleicht nur um den Versuch handelt, sich als starken Mann darzustellen oder um einen ernsten Plan: Mit mehrwöchigen brutalen Häuserkämpfen in Gaza wäre bei einem Einmarsch der israelischen Armee wohl so oder so zu rechnen.

    • Seit 2022 Autor bei Perspektive. Schreibt als Studierender aus Sachsen insbesondere internationalistisch über die Jugend, Antimilitarismus und das tagespolitische Geschehen. Vorliebe für Gesellschaftsspiele aller Art.

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