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Montag, April 29, 2024
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    Proteste in Israel – Was bedeuten sie für die anhaltenden koloniale Situation

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    Mittlerweile wird Israels aktuelle Regierung auch in deutschen Medien offen als rechtsextrem benannt. Faschistische Kräfte forcieren dort seit Monaten eine konsequentere koloniale Expansion und brutale Gewalt gegen Palästinenser:innen, sowie den Abbau des Rechtsstaats im Innern. Welche Bedeutung haben in diesem Kontext die Massenproteste gegen die Regierung unter Netanjahu? – Ein Kommentar von Ali Najjar

    In Tel Aviv bringt insbesondere eine angekündigte Justizreform seit Anfang des Jahres wöchentlich mitunter Zehntausende auf die Straße. Viele stehen einer Stärkung der Regierung gegenüber Israels oberstem Gericht ablehnend gegenüber. Die Demonstrationen legen Brüche in einer Siedlergesellschaft zutage, die von starken Widersprüchen geprägt ist.

    Die Widersprüche der Siedlergesellschaft

    Seit der Staatsgründung 1948, die mit der Vertreibung von über 700.000 Palästinenser:innen einherging, wendet der Staat Israel seine Gewaltmittel maßgeblich auf die Niederhaltung des indigenen Widerstands der Palästinenser:innen auf – wie jeder andere Siedlerstaat, um sich nach innen zu stabilisieren. 

    Aus der Sorge, dass demokratische Rechte und Freiheiten ausgehöhlt werden, folgt bei den meisten Menschen die aktuell protestieren jedoch nicht eine grundsätzliche Hinterfragung des kolonialen Systems, in dem sie leben. Dies wird besonders deutlich an dem stark nationalistischen Charakter, den die Proteste aufweisen. Dabei ist es gerade Israels Geschichte als kolonialer Siedlerstaat, mit der der Aufstieg der Rechten erklärt werden muss.

    Phasenweise konnte Israel durch das Oslo-Abkommen 1993 eine Befriedung mit Teilen der palästinensischen Elite erreichen. Dieses Abkommen gründete sich vor allem auf das vage Versprechen eines palästinensischen Staates im Rahmen einer Zweistaatenlösung. Allerdings trieb Israel seine Siedlungspolitik beständig voran. Seitdem sind über 20 Jahre vergangen und es wurde immer deutlicher: die Zweistaatenlösung wurde politisch und materiell immer mehr zu einer Unmöglichkeit.

    Es kam zu einer Zuspitzung, die die zionistische Sozialdemokratie in Israel, die die Abkommen aushandelte, an Glaubwürdigkeit einbüßen ließ. Das rechts-konserative und liberale Lager, vertreten durch den Langzeit-Ministerpräsidenten Netanjahu, stand für eine Politk des Hinhaltens und eine Elendsverwaltung in den militärisch besetzten Gebieten. Netanjahu erreichte in seinen Amtszeiten vor allem, dass das Thema Militärbesatzung in der Alltagspolitik eine zunehmend untergeordnete Rolle spielte.

    Zwei Faktoren brachten jetzt mit der neuen Regierung rechtsextreme und faschistische Kräfte auf den Plan. Zum einen begann Netanjahus Machtbasis durch zahlreiche Skandale auch nach innen zu schwanken. Zum Anderen wurde die Aufrechterhaltung der Besatzung politisch und materiell immer kostspieliger, nicht zuletzt weil der palästinensische Widerstand erstarkte. Diese rechten israelischen Kräfte bekamen nun die Chance, ihre “Lösung” des Konflikts zu präsentieren: Die Palästinener sollten endgültig niedergeschlagen werden, also vertrieben, militärisch besiegt oder zur politischen Kapitulation und zur Aufgabe ihrer nationalen Identität gezwungen werden. So will es das Programm der aktuellen Regierung, verkörpert durch den Minister Smotrich.

    Angesichts dieser Kampfansage aus dem Zionismus hat der Widerstand im besetzten Palästina enormen Zulauf aus der Jugend erhalten und auch organisatorisch an Qualität gewonnen.

    In Palästina schreibt die Jugend an einem neuen Kapitel des Befreiungskampfs

    Aber was ist nun mit den Demonstrationen in Tel Aviv?

    Aus den Protesten gegen die Justizreform machten auch andere Bilder die Runde als die eines blau-weißen Meeres aus Israelflaggen. Es gab durchaus einzelne kleinere Blocks, die von palästinensischen und roten Fahnen dominiert waren. Wer politisch für ein wirklich freies Palästina einsteht, muss diese Teile der Proteste ernst nehmen, auch wenn sie noch klein sind.


    Eine Siedlergesellschaft weist grundsätzlich dieselben Klassen auf wie andere Gesellschaften im Kapitalismus und auch dieselben Widersprüche. Auch in Israel gibt es Arbeiter:innen und Jugendliche, jüdische wie arabische. Und einige nehmen wahr, dass es die nationalistische Kolonial-Ideologie des Zionismus ist, die auch ihren Interessen im Wege steht – auch angesichts dessen, dass der Zionismus aktuell eine besonders repressive und offen gezeigte politische Form anzunehmen scheint.

    Es gibt in Israel eine lange Tradition explizit anti-zionistischer und klassenkämpferischer Kräfte, die genau für solch eine widerständige Politik stehen. Dazu zählt etwa das Bündnis Chadash/Jabha, das von der Kommunistischen Partei Israels gegründet wurde und sich am Anti-Apartheid Block in den Demos beteiligte.

    Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen den Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer noch bevorstehen. Was sich aber schon jetzt sagen lässt: Die Zeiten der stillen Elendsverwaltung sind vorerst zu Ende. 

    • Muslimischer Sozialist aus Berlin und Perspektive-Autor seit 2023. Fördert gern revolutionären Optimismus und Desillusionierung über den bürgerlichen Staat. Student der Sprachwissenschaften und Palästinenser.

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