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Montag, April 29, 2024
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    Logik der “Asyldebatte”: Länder zerstören, Grenzen hochziehen, billige Arbeitskräfte reinlassen, den Rest abschieben

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    Die Union fordert vom Kanzler, eine “Asylwende” einzuleiten. In einem Antrag spricht sich die Bundestagsfraktion von CDU und CSU für einen “Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik” aus. Für den deutschen Kapitalismus rücken in dieser Frage alle bürgerlichen Parteien zusammen: die CDU konservativ-national, die FDP neoliberal, die AfD quasi-faschistisch, die SPD nationalistisch, die Grünen nur mit “schlechtem Gewissen” und die Linke gespalten. Welche Linie bildet sich in der aktuellen Asyldebatte heraus und wie könnten wirkliche Lösungen aussehen? – Ein Kommentar von Ahmad Al-Balah.

    In der herrschenden Klasse steht einmal mehr das Thema “Migration” auf der Tagesordnung. Es ist nicht so, dass die Streitfrage in Deutschland gerade jetzt besonders akut wäre. Die Zahl an Asylbewerber:innen in Deutschland ist z.B. gar nicht so „stark gestiegen“, wie die aktuelle Medienberichterstattung es uns glauben machen möchte: In den ersten acht Monaten diesen Jahres stellten 204.461 Menschen in Deutschland einen Asylantrag. Im Jahr 2022 waren es insgesamt auch schon 217.774 Erstanträge. 

    Was dagegen natürlich ansteigt, ist die Zahl der Menschen aus besonders unterdrückten Teilen dieser Erde: Mit der zunehmenden Verarmung der Arbeiter:innenklasse weltweit durch den Kapitalismus (Ausbeutung, Kriege, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen) sehen sich immer mehr Menschen in ihrer Verzweiflung gezwungen, sogar ihr Leben dafür zu geben, um nach Deutschland, dem Herzen des europäischen Kapitalismus, zu gelangen, und hier für einen besseren Lohn direkt für die Großkonzerne arbeiten zu dürfen.

    Doch eine unkontrollierte Migration, bei der massenhaft nicht qualifizierte Arbeiter:innen nach Deutschland kommen, scheint derzeit nicht im Interesse der deutschen Kapitalist:innenklasse zu liegen. Das ist einerseits auf den Mangel speziell an Fachkräften zurückzuführen, andererseits auf die ideologische Vorbereitung der Bevölkerung auf kommende Kriege und Krisen in Form eines erstarkenden Nationalismus’.

    Die bürgerlichen Parteien halten zusammen: gegen Migrant:innen

    Die CDU fordert mit ihrem Antrag daher, eine „Asylwende” einzuleiten. Wer bereits in anderen Mitgliedsstaaten einen Asylantrag gestellt habe oder wessen Asylantrag abgelehnt worden sei, solle “bei eigenmächtiger Weiterreise innerhalb der EU an den Binnengrenzen zurückgewiesen werden können”, fordert die Union in ihrem Antrag.

    Außerdem solle die Liste der asylrechtlich sicheren Herkunftsstaaten um Georgien, Moldau, Indien sowie um die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien erweitert werden, um Asylverfahren beschleunigt durchführen zu können.

    Auch solle die Bundesregierung dem Antrag zufolge an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz “stationäre Grenzkontrollen” mit ergänzender flexibler Schleierfahndung etablieren. Zudem sollen Anreize für eine Sekundär-Migration nach Deutschland gesenkt werden: Die Aufnahme geflüchteter Menschen müsse „deutlich, sehr deutlich in sehr kurzer Zeit runter”, so CDU-Vize Spahn.

    Aus der CDU heißt es in Anlehnung an den nationalistischen Vorstoß der SPD von Anfang September, es sei auch ein „Deutschland-Pakt für die Migration“ notwendig und meinte damit, die ausländische Migration für den deutschen Kapitalismus nutzbar zu machen. Unionsfraktionsvize Jens Spahn formulierte dazu im ZDF, es sei eine gemeinsame Entscheidung in der demokratischen Mitte zum Thema Migration nötig, um Populisten von links und rechts und Radikalen das Wasser bei dem Thema abzugraben. Beim Thema Migration geht es also – wenn man genauer hinhört – auch um die Profilierung der unterschiedlichen bürgerlichen Lager für den Machtkampf in Deutschland.

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    Auch “linke” Parteien bei Asylverschärfung dabei

    Im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF warnte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann nun vor “scharfen Tönen und Parolen” im Wahlkampf. Dabei hatten die Grünen erst im Juni ihrerseits einer Verschärfung des EU-Asylrechts zugestimmt.

    Selbst Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) stimmt für eine restriktive Migrationspolitik. Obgleich er dabei auf die „Belastung der Kommunen“ verweist und sich „gegen polizeiliche Grenzkontrollen“ ausspricht, scheint sich auch die Linke nicht in Solidarisierung mit Geflüchteten zu üben. Der Rechtsruck findet allerdings nicht nur in Thüringen aufgrund der AfD-Stimmgewinne statt. Davon zeugen sowohl die Töne von Sarah Wagenknecht wie auch die aller anderen bürgerlichen Politiker:innen.

    Die SPD wirbt sowohl “rechts” wie “links” und nimmt somit eine zentralistisch-nationalistische Position ein. Während Bundespräsident Steinmeier Deutschland und Italien an der “Belastungsgrenze” sieht, schlägt Innenministerin Faeser als „trojanisches Pferd“ vor, die Migration innenpolitisch reformieren zu wollen. Beide argumentieren scheinheilig, dass Deutschland warte, wie und dass sich Italien in der Sache positioniere – als ob das Land nicht von einer Faschistin regiert würde.

    FDP-Chef Lindner schließlich fordert im Interview, die Kontrolle an den Grenzen zurückzugewinnen. Schließlich koste „ungeordnete Migration inzwischen viele Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt für Investitionen, weil viele Jahre seit 2015 der Mut zur Konsequenz fehlte.“ Er nehme große Offenheit für die Zuwanderung qualifizierter Menschen wahr, aber keinerlei Bereitschaft mehr, ungeordnete Migration in unsere Sozialsysteme zu tolerieren. 

    Dieses Mantra ist längst in die rechten und die links-liberalen Schichten der Gesellschaft eingedrungen. Ein „Migrationsforscher“ im Dienste der Bürgertums spricht zwar noch von Schwierigkeiten mit der “hundertprozentigen Steuerung“ der Migration, also im Klartext von Schwierigkeiten mit der totalen Einreisekontrolle und Überwachung. Aber: man arbeite daran.

    Ansätze der kapitalistischen Politik

    Auf der einen Seite sollen also massive Repressionsmaßnahmen vorbereitet werden. So wurde kürzlich bereits ein Programm zur Aufnahme von Migrant:innen aus Italien vom Bundesinnenministerium (zur Probe?) ausgesetzt, nur um es dann vorübergehend wieder aufzunehmen.

    Hinzu kommen Abkommen mit Tunesien, Libyen oder der Türkei, damit diese mit Hilfe bewaffneter Einheiten Migrant:innen zurückhalten. Dort gibt es eine direkte oder indirekte Finanzierung der gemeinten Repressionsorgane ebenso, wie den Ausbau der EU-Grenzkontrolle “Frontex”. Zudem erfolgt die Erklärung verschiedener weiterer Länder zu „sicheren Herkunftsstaaten“, womit die unterlassene Hilfeleistung „rechtstaatlich“ gemacht, also legitimiert wird.

    In den Monaten Januar bis August diesen Jahres sind bereits 2.096 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Zuletzt kam es im Juni zu einer der größten Bootskatastrophen vor der griechischen Küste, bei der mehr als 600 Menschen ertranken.

    Bootskatastrophe vor der griechischen Küste: Das Morden von Geflüchteten durch das EU-Grenzregime

    Die Dunkelziffer sowie die Millionen der aufgehaltenen oder zurückgewiesenen Menschen, die im Zuge einer versuchten Migration nach Deutschland – beispielsweise auf anderen Migrationsrouten – an Hunger, Vergewaltigung, Mord oder ähnlichem außerhalb Europas starben, sind dabei nicht inbegriffen.

    Die andere Seite der Medaille stellt der Versuch einer kapitalistischen “Integration” dar: FDP-Generalsekretär, Bijan Djir-Sarai, fasst den derzeit forcierten Kurs der Kapitalist:innenklasse hierzulande treffend mit den Worten zusammen: die Form der Migration müsse „interessengeleitet“ wie in Kanada oder Australien sein. Das heißt nichts anderes, als dass sie ausschließlich „für den Arbeitsmarkt“ funktionieren soll. Der Ausblick auf „Sozialsysteme“ dürfe dabei keine Rolle spielen.

    Auch solle eine Abschiebung der bereits in Deutschland lebenden, aber nicht-arbeitenden oder nicht ausgebildeten Migrant:innen durchgesetzt werden, um Kapazitäten – für besseres “Humankapital”, wie es im Unternehmer:innen-Jargon heißt – zu erhöhen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) spricht in diesem Zusammenhang von kürzlich gemessenen 300.000 eigentlich „ausreisepflichtigen“ Personen in Deutschland. Die Abschiebung sei deshalb dringend notwendig, damit Menschen, „die wirklich asylberechtigt seien“ und Hilfe benötigten, aufgenommen werden könnten.

    Fluchtursachen bekämpfen heißt: den Kapitalismus bekämpfen

    Ja, es geht darum, die „Fluchtursachen zu bekämpfen“. Für die die bürgerlichen Politiker:innen und Kapitalist:innen liegen diese “Fluchtursachen” jedoch allein in der – von der Geostrategie imperialistischer Länder scheinbar unabhängigen – mangelnden Stabilität der Herkunftsstaaten. Tatsächlich bestehen die Fluchtursachen jedoch ursächlich in der Ausbeutung und Unterdrückung anderer Länder und Völker durch imperialistische Staaten wie auch Deutschland. 

    Und weil zwei grundsätzlich unterschiedliche “Ursachen” ausgemacht werden, unterscheiden sich dann auch die Lösungsansätze: Der eine wäre, sich gegen die kapitalistische Ausbeutung dieser Länder zu stemmen, die bürgerliche wiederum bestünde darin, die gemeinten Länder so auszustatten, dass sich eine “Sicherheitsarchitektur” von oben etabliert. Wie zuletzt in der Türkei oder Tunesien geschehen, besticht Deutschland deshalb die herrschenden bürgerlichen Schichten anderer Länder, damit diese die besonders verarmten Teile der Arbeiter:innenklasse aus den am schwersten unterdrückten Teilen dieser Welt von der Migration nach Deutschland abhalten.

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    Diese Geldsummen – man ist fast geneigt, von “Blutgeld” sprechen – sind dabei gerade einmal ein Bruchteil jenes Profits, den deutsche Unternehmen durch die Ausbeutung von Arbeitskräften und Rohstoffen sowie durch Sicherung vorteilhafter Absatzmärkte in den abhängigen Staaten dieser Welt nach Deutschland “verschleppt” haben.

    Das versteht – unterm Strich – scheinbar unser bürgerlicher Staat unter den Euphemismen „Fluchtursachen bekämpfen“ und „Migration begrenzen“: In Deutschland für die eigene bürgerliche Klasse Reichtum anhäufen, ohne sich dabei um die Menschen oder die Natur, die hinter diesem Reichtum stehen, zu scheren.

    In vielen Fällen – z.B. in Libyen, Afghanistan, Syrien oder auch der Ukraine – haben die Kapitalist:innen mit imperialistischen Stellvertreterkriegen um Ressourcen, Arbeitskräfte und Absatzmärkte überhaupt erst Fluchtursachen geschaffen. Nun sollen die Konsequenzen daraus – wie eben jetzt die Migration der dortigen Arbeiter:innenklasse in die imperialistischen Staaten – mit allen Mitteln abgewendet werden – oder eben zumindest in Form einer restriktiv-selektiven Migrationspolitik der deutschen Wirtschaft zum Nutzen gereichen.

    • Ahmad Al-Balah ist Perspektive-Autor seit 2022. Er lebt und schreibt von Berlin aus. Dort arbeitet Ahmad bei einer NGO, hier schreibt er zu Antifaschismus, den Hintergründen von Imperialismus und dem Klassenkampf in Deutschland. Ahmad gilt in Berlin als Fußballtalent - über die Kreisliga ging’s jedoch nie hinaus.

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