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Samstag, April 27, 2024
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    Israelische Bodenoffensive erreicht Al-Shifa-Klinik – internationale Kritik wächst

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    Derzeit finden heftige militärische Kämpfe im urbanen Gebiet von Nord-Gaza statt. Die humanitäre Lage spitzt sich zu: schon rund 11.000 Menschen sind nach palästinensischen Angaben im tobenden Krieg getötet worden, darunter rund die Hälfte Frauen und Kinder. Grausame Berichte über die Gesundheitslage sind an der Tagesordnung. Hunderttausende sind auf der Flucht. Selbst enge Verbündete des israelischen Staats üben immer offener Kritik. – Eine Einschätzung von Hedwig Scholle

    Die israelische Bodenoffensive in den Gaza-Streifen, die am 6. November begann, hat den Kern von Gaza-Stadt erreicht. Fokus ist das größte Krankenhaus im Gazastreifen, die Al-Schifa-Klinik. Am Mittwoch drangen erstmalig israelische Einheiten in das Krankenhaus ein, in dem tausende Menschen Schutz suchen. Die OrganisationÄrzte ohne Grenzen” nennt die Lage katastrophal.

    Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF werfen der islamisch-fundamentalistischen Hamas vor, eine Kommandozentrale unter dem Krankenhaus zu betreiben. Dieser Aussage widersprechen die Ärzte der Klinik deutlich. Bisher konnten weder die Angriffe, noch die Hamas-Präsenz von unabhängiger Seite überprüft werden. Inzwischen ist die Mehrzahl aller Krankenhäuser im nördlichen Teil des Gazastreifens aufgrund der Gefechte außer Betrieb. Von 35 Krankenhäusern sollen nur noch 12 funktionsfähig sein.

    Somit dringen immer mehr grausame Berichte an die Öffentlichkeit etwa durch die New York Times oder die britische BBC: Neugeborene sterben in Brutkästen, Kaiserschnitte werden ohne Narkose durchgeführt, Frauen erleiden Fehlgeburten wegen des Kriegsstresses, Ärzte operieren mit Handylicht, es fehlt an Desinfektion und in den Krankenhäusern steigt die Gefahr von Typhus und anderen Krankheiten.

    Für die im Gazastreifen lebenden Palästinenser:innen wird die Lage vor Ort immer dramatischer: Inzwischen befinden sich rund 1,6 Millionen der 2,2 Millionen Einwohner auf der Flucht. Die Wasserversorgung ist aufgrund des Treibstoffmangels ebenfalls in Gefahr, laut Angaben der UN müssen ca. 200.000 Menschen ohne Trinkwasser leben. Auch die Krankenversorgung bricht immer mehr zusammen.

    Die Entwicklung der “Bodenoffensive”

    Seit Jahrzehnten hält die strenge Abriegelung des Gaza-Streifens durch die israelische Regierung an. Unmittelbarer Ausgangspunkt der aktuellen israelischen Angriffe waren die Ereignisse vom 7. Oktober. An dem Tag hatten palästinensische Kräfte zur Luft, zu Land, zu See und durch Tunnel eine militärische Operation aus Gaza heraus gestartet. Sie griffen eine Reihe von militärischen Zielen an, außerdem kam es zu antiisraelischen Massakern, wie etwa auf einem Musikfestival. Zuerst wurde von 1.400 Getöteten gesprochen, mittlerweile hat die israelische Regierung die Zahl auf 1.200 Opfer nach unten korrigiert.

    Die israelische Regierung schuf unmittelbar ein Kriegskabinett und rief den Kriegszustand aus. Zunächst kennzeichnete sich dieser vor allem durch Luftangriffe des israelischen Staats auf militärische, aber auch zivile Ziele im Küstengebiet. Dabei kamen bereits mehrere tausend Menschen ums Leben.

    Am 6. November begann Israels Militär (Israel Defense Forces, IDF) schließlich auch mit der lange angekündigten Bodenoffensive in den dicht besiedelten Gazastreifen. Diese wurde zuvor durch zahlreiche Invasionen vorbereitet, bei denen Sensoren platziert wurden, um Informationen zu sammeln. Außerdem ging der Offensive eine Vielzahl von Angriffen in Form von Raketenbeschüssen voraus.

    Bei der Bodenoffensive gelang es den IDF, den Gazastreifen in einen nördlichen und einen südlichen Teil zu teilen und Gaza-Stadt zu umstellen. Auch die Raketenangriffe wurden fortgeführt. Dabei wurden vermehrt Krankenhäuser und andere zivile Ziele beschossen. Die israelische Regierung begründete diese Angriffe wiederholt damit, dass diese Ziele eben eine Front für Waffenlager oder ähnliche Militäreinrichtungen der Hamas seien. Konkrete Beweise wurden bisher nicht vorgelegt. Ohne diese jedoch bleibt selbst nach bürgerlichem Völkerrecht ein Angriff auf zivile Ziele ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention und damit ein Kriegsverbrechen.

    Was soll die Bodenoffensive erreichen?

    Die israelische Kriegsregierung versucht mit seiner Bodenoffensive zum einen, Stärke nach Innen zu beweisen. Damit soll auch versucht werden, die von heftigen Widersprüchen geprägte Gesellschaft zusammenzuhalten. Während ein Minister jüngst offen darüber nachdachte, eine Atombombe auf Gaza zu werfen, versucht der korrupte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit aller Kraft an der Macht zu bleiben. Doch der Druck auf ihn wächst – gerade durch die Familien der rund 250 Geiseln, die in Gaza gefangen gehalten werden und deren Leben durch die Bodenoffensive weiter in Gefahr gebracht wird.

    Einen klar kommunizierten Plan, welche militärischen und politischen Ziele erreicht werden sollen, scheint es derweil nicht zu geben. Als Kriegsziel wird offiziell herausgegeben, dass man die „Hamas auslöschen“ wolle. Dafür soll es laut dem israelischen Verteidigungsminister auch Operationen in Süd-Gaza geben, wohin zuletzt Hunderttausende geflohen sind.

    Doch wie das gelingen soll und wann dieses Ziel erreicht ist, bleibt offen. Es scheint, als sei es Hauptzweck des Kriegskabinetts, in jedem Fall die Kontrolle über palästinensische Gebiete zu stärken. Dafür ist es bereit, alle nötigen Opfer auf palästinensischer Seite in Kauf zu nehmen.

    Militärisch stellt sich die israelische Regierung hierbei auf einen längeren Krieg ein, der schließlich zumindest in einer vorübergehenden israelischen Besatzung des Gebiets münden soll. Israels Premierminister Benjamin streitet zwar den Begriff der „Besatzung“ ab, spricht in einem Interview mit dem US-Sender ABC jedoch davon, dass Israel für unbestimmte Zeit „die Verantwortung für Sicherheit im Gazastreifen übernehmen [wolle], um weitere Angriffe zu unterbinden“.

    Die Israelische Rechte träumt derweil schon lange von einer Ausweitung des Exodus der Palästinense r:innen. Am 1. November wurde etwa ein Dokument einer Abteilung des israelischen Geheimdienstministeriums geleakt, das diesem Ziel zuzustimmen scheint. In ihm werden drei Optionen für den Gazastreifen nach Kriegsende aufgelistet: Entweder bekomme die palästinensische Autonomiebehörde unter Führung der Fatah die Kontrolle über das Gebiet oder es entstehe eine „lokale arabische Autorität“ oder die Bevölkerung aus Gaza werde in das Ägyptische Sinai vertrieben, während die letztere in dem Papier favorisiert wird.

    Gerade solche Positionen stoßen jedoch auf erbitterten Widerstand von Israels Partnern und isolieren das Land derzeit so stark wie selten zuvor.

    Wie stehen die “westlichen Mächte” zum Konflikt?

    Die Bodenoffensive und die damit einhergehende humanitäre Katastrophe zwingt alle Akteure, sich zu positioniere – von den verschiedenen Kräfte in Westasien bis hin zu „westlichen Mächten“ wie der EU und den USA. Hierbei verfolgen alle Akteure eigene geopolitische Interessen. Und gerade deshalb häuft sich nun auch die Kritik an Israel.

    Der wohl wichtigste Verbündete des israelischen Staates bleiben die USA, und diese Beziehung beruht zumindest teilweise auf Gegenseitigkeit.

    Zuletzt sprach dies der unabhängige Präsidentschaftsanwärter 2024, Robert F. Kennedy Jr., in einem Interview mit dem Moderator und Publizisten Dave Rubin aus. Unter anderem hob er das militärische Bündnis der beiden Staaten hervor und erklärte, dass Israel „fast schon wie ein Flugzeugträger im mittleren Osten“ für die USA sei.

    Des weiteren betonte er, dass Israel eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von Ölvorkommen in der Region spiele. Gäbe es Israel nicht, würden Russland, China und die BRICS-Staaten 90% des Ölvorkommens auf der ganzen Welt kontrollieren. Nicht zuletzt sei Israel auch ein wichtiger Partner bei der Entwicklung von Waffensystemen wie zum Beispiel dem Raketenabwehrsystem „Iron Dome“.

    Doch obgleich dies die grundlegende strategische Bedeutung von einem starken Israel für die USA deutlich macht, geht die amerikanische Regierung derzeit ziemlich offen in Konfrontation mit der Netanjahu-Regierung. So erklären derzeit sowohl der amerikanischen Außenminister, als auch der amerikanische Präsident bei verschiedenen Gelegenheiten, dass eine zwei-Staaten-Lösung müsse nun auf den Tisch müsse. Auch wenn diese politisch tot ist, so ist es doch ein klares Signal gegen ein zu heftiges Vorgehen in Gaza. Dazu gehören auch regelmäßige Forderungen nach “humanitären Pausen”. Hintergrund dessen ist, dass die USA einen Flächenbrand verhindern wollen, da sie sich strategisch in Richtung China orientieren und kräftemäßig gebunden sind.

    Analyse: Welche Interessen verfolgen der Iran und die USA beim Krieg in Gaza?

    Die EU-Staaten sind sich in ihrer Außenpolitik derweil weiterhin uneinig und ihre Positionen unterscheiden sich teils deutlich voneinander. Allgemeine Zustimmung gibt es allerdings dafür, dass die Hamas der Aggressor in diesem Konflikt sei und Israel das „Recht auf Selbstverteidigung“ habe.

    Doch auch hier bröckelt die Unterstützung für Israel. Während etwa Frankreich einer Forderung nach einem Waffenstillstand der UN zustimmte, forderte der belgische Premierminister unlängst sogar Sanktionen gegen Israel. Selbst Teile der britischen Regierung erklärten ungewöhnlich offen und klar, dass die IDF die Unantastbarkeit von Krankenhäusern respektieren müssten. Klar ist auch hier, dass die westlichen Großmächte kein Interesse daran haben, den Konflikt weiter zu eskalieren .

    Wie reagiert Westasien?

    Derweil setzen die israelische Bodenoffensive und die vielen Toten auf palästinensischer Seite die arabischen Staaten unter Druck. Sie müssen sich zum einen solidarisch mit den Palästinenser:innen zeigen, doch scheint es so, als scheue man einen Kriegseintritt.

    Hierbei spielen die umliegenden Staaten im Konflikt eine wichtige Rolle. Am meisten betroffen sollte wohl der Libanon seien, dieser grenzt an den Norden des israelischen Staatsgebiets und die islamistisch-fundamentalistische Hisbollah spielt eine große Rolle im Süden des Staats. Deren Chef Hassan Nasrallah hatte sich bereits am 3. November zu Wort gemeldet und zwar betont, dass „alle Optionen auf dem Tisch liegen“, man aber vorerst nicht eingreifen werde.

    Am 11. November hielt Nasrallah seine zweite Rede seit Kriegsausbruch. Hier machte er nochmals klar, dass die Hisbollah zunächst nicht in den Konflikt einschreiten werde und auch ihren Krieg mit Israel nicht weiter eskalieren wolle.

    Jordanien grenzt ebenfalls an Israel und wird immer stärker in den Krieg einbezogen. Nicht nur warf die jordanische Luftwaffe bereits Hilfsgüter über dem Gazastreifen ab, auch erklärte  Ministerpräsident Bisher al-Khasawneh vor Kurzem, dass Israel „eine rote Linie“ überschritten habe. Außerdem machte er klar, dass eine Vertreibung der Palästinenser:innen oder der Versuch einer Vertreibung eine Kriegserklärung gegenüber Jordanien darstelle. Hier gibt es also das konkrete Risiko einer weiteren Front in diesem Krieg.

    Bei alledem ist v.a. die Reaktion des türkischen Staats bemerkenswert, da dieser als NATO-Mitglied eine besondere Rolle in der Region spielt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte sich bereits solidarisch gegenüber den Palästinenser:innen geäußert und Israel scharf kritisiert. Nun verweigerte er sogar ein Treffen mit US-Außenminister Blinken. Für den türkischen Staat dient der Konflikt im Gazastreifen ebenfalls dazu, von der eigenen Offensive gegen die kurdische Freiheitsbewegung abzulenken.

    Wie geht es also weiter?

    Derzeit finden in den bürgerlichen Thinktanks breite „Szenarien“-Debatten statt, wie es nach einer Bodenoffensive weitergehen könnte. Naturgemäß sind diese Diskussionen sehr spekulativ, da der Ausgang der Offensive noch gar nicht bekannt ist.

    Emile Hokayem, Senior Fellow am “International Institute for Strategic Studies” in London befürwortete deshalb kürzlich eine realistischere Haltung: “Ich weiß, dass die politischen Planer in Washington, in Paris, in Berlin, hier und anderswo Papiere zu dieser Sache produzieren. Es ist eine fundamentale Losgelöstheit von der Realität vor Ort. Es ist die Art der Kämpfe und das Ausmaß der Zerstörung und das Ausmaß des menschlichen Leids, die bestimmen werden, was am Tag danach passiert. Es ist also besser, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt passiert, und es zu gestalten.“

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