Über sechs Jahre liegen der G20-Gipfel, die Proteste dagegen und die massive Polizeigewalt in Hamburg nun schon zurück. Am 18. Januar startete nun der dritte Prozess im Zusammenhang mit dem „Rondenbarg-Komplex“. Dieser Fall geht nicht nur die Beschuldigten etwas an. – Ein Kommentar von Alex Lehmann.
Gipfelproteste haben eine lange Geschichte. Die bekanntesten von ihnen sind wohl die Proteste gegen den Gipfel des Weltwährungsfond (WWF) 1999 in Seattle, gegen den G8-Gipfel 2001 in Genau und die gegen den G20-Gipfel in Hamburg.
Aber nicht nur die kreativen und zahlreichen Protestformen, Aktionen und die große Zahl der Teilnehmer:innen machten die Gipfelproteste berühmt. Immer wieder sorgte auch massive Polizeigewalt für internationale Schlagzeilen.
Die britische Zeitung The Guardian schrieb in einem Artikel über die Proteste in Genau 2001 zum Beispiel von „der blutigen Schlacht von Genua“ (The bloody battle of Genoa). Neben zahlreichen verletzten Journalist:innen, Unbeteiligten und teilweise gefolterten Aktivist:innen musste sogar ein Todesopfer beklagt werden: Der 20-jährige Carlo Giuliani wurde bei einer Auseinandersetzung mit der italienischen Polizei am Rande des Gipfels erschossen.
G20 in Hamburg: Ein Festival der Repression
Auch die Ereignisse rund um den G20-Gipfel in Hamburg haben wohl noch viele in Erinnerung: ein Kriegsschiff der Bundeswehr im Hamburger Hafen, eine US-amerikanische Kriegsdrohne, die über der Stadt patrouillierte, Spezialeinheiten und selbst Kriegswaffen wurden in der zweitgrößten Stadt Deutschlands gegen Demonstrierende eingesetzt.
Für viele und vor allem für diejenigen, die live dabei waren, ist klar: Dass es keine Toten gab, ist pures Glück! Der damalige Oberbürgermeister Hamburgs Olaf Scholz hingegen zog die Bilanz: Bei seinem „Festival der Demokratie“ habe es „keine Polizeigewalt gegeben“.
Betrachtet man aber einmal die Tatsachen, ergibt sich ein deutlich anderes Bild von den Ereignissen in Hamburg. Nach einer wochenlangen Hetzkampagne gegen die Demonstrierenden in den großen bürgerlichen Medien wurde in der Stadt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit kurzerhand ausgesetzt und Polizist:innen gingen brutal gegen alle vor, die irgendwie nur den Anschein machten, eventuell Widerstand zu leisten.
Der Rondenbarg-Komplex
Besonders hart erwischt es die Demonstrant:innen, die am Morgen des 7. Juni in Richtung Innenstadt ziehen. Am Rondenbarg, einer Straße mitten im Gewerbegebiet Bahrenfeld, trifft der Demozug auf die Polizei und wird sofort zerschlagen.
Von einer „Straßenschlacht“ lässt sich kaum sprechen: Von zwei Seiten geht die Staatsmacht mit Wasserwerfern auf die Demonstration los. Beamte schlagen den Aktivist:innen ins Gesicht und auf den Kopf. Eine offensichtlich zuvor geplante Falle schnappt zu.
Einige versuchen, über einen naheliegenden, meterhohen Zaun zu fliehen und stürzen in die Tiefe. Andere werden von der Polizei so stark gegen einen weiteren Zaun gedrückt, dass dessen Verankerung aus dem Beton bricht und Menschen mehrere Meter in die Tiefe stürzen.
Schon nach zwei Minuten ist alles vorbei. Bilanz: 14 teils schwer verletzte Aktivist:innen, keine verletzte Polizist:innen. „Die haben sie aber schön platt gemacht, alter Schwede.“, soll der für die Videoaufnahme zuständige Beamte das Geschehen kommentiert haben.
Mehrere Anklagen – nur wegen Teilnahme an der Versammlung
Vor Ort gab es 74 Verhaftungen. Seitdem liefen erst zwei Prozesse gegen Teilnehmer:innen der Demonstration. Beide Prozesse platzten, konnten also nicht zu Ende geführt werden.
Als erster Angeklagter steht der 19-jährige Italiener Fabio V. vor Gericht. Sein Prozess hat gleich zwei Besonderheiten: zunächst einmal wurde Fabio V. ganze 5 Monate lang in U-Haft gesperrt und so an der Ausreise aus Deutschland gehindert. Die zweite Aufälligkeit: Der einzige Nachweis, den die Staatsanwaltschaft für ihre Anklage in zwölf Verhandlungstagen vorlegen kann, besteht darin, dass Fabio V. an der Demonstration teilgenommen hat.
Selbiges gilt für die 5 Minderjährigen, die im zweiten Prozess angeklagt wurden. Auch ihnen kann keine konkrete Straftat, sondern nur die Teilnahme an der Demonstration nachgewiesen werden.
Am Ende konnte keiner der beiden Prozesse zu Ende gebracht werden. Die Richterin, die mit dem Fall von Fabio V. betraut war, wurde schwanger, und 2020 machte die Corona-Pandemie der Staatsanwaltschaft einen Strich durch die Rechnung.
Was hat es mit den Vorwürfen auf sich?
Aber warum geht diese Geschichte jetzt alle etwas an? Nun ja: wenn es zu einer Verurteilung auf der Beweisgrundlage à la „hat an einer Versammlung teilgenommen“ kommen würde, wäre für die Justiz ein Präzedenzfall geschaffen.
Denn wenn es möglich ist, für die Teilnahme an der Demonstration verurteilt zu werden, ohne dass konkrete Straftaten bewiesen werden können, dann wäre das quasi ein Blanko-Scheck für die Staatsmacht. Die Versammlungsfreiheit würde dann, wie so oft, mit Füßen getreten.
Am 18. Januar lief jetzt der dritte Prozess an. Dieses Mal sitzen 6 Beschuldigte unter derselben Anschuldigung wie Fabio V. und die Beschuldigten des 2. Verfahrens auf der Anklagebank. Ihnen wird also ebenfalls vorgeworfen, Teil der Demonstration am Rondenbarg gewesen zu sein.
Wie weiter?
Unter dem Motto „Unsere Solidarität gegen ihre Repression!“ hat die linke Antirepressionsorganisation Rote Hilfe die Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand!“ gegen die Verfahren ins Leben gerufen. Neben Vorträgen über die Ereignisse und das Nachspiel rund um den Rondenbarg-Komplex ist auch eine bundesweite Demonstration geplant, die am Samstag, den 20. Januar um 16 Uhr am S-Bahnhof Jungfernstieg in Hamburg starten soll.
Am kommenden Samstag auf nach #Hamburg! Gemeinschaftlicher #Widerstand gegen staatliche #Repression! #UnitedWeStand #Rondenbarg pic.twitter.com/g5cPAUuCoz
— Kommunistischer Aufbau (@komaufbau) January 17, 2024
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Wie der Prozess ausgeht und ob es auch bei den über 60 weiteren Beschuldigten zum Verfahren kommen wird, ist weiter ungewiss. Zum ersten Verhandlungstag erschien eine der Angeklagten nicht. Einer anderen droht bei einer Verurteilung eine Abschiebung in die Türkei.
In einer gemeinsamen Prozesserklärung schreiben die Angeklagten: „Was uns hier und heute eint, ist der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Menschen nicht vor Hunger sterben, obwohl es genug zu essen gibt, in dem sich niemand unter Bombenhagel zur Nachtruhe legen muss, in der diese Grausamkeiten zur Vergangenheit gehören, in der die Natur geschützt wird und in der alle zusammen ein menschenwürdiges Leben führen können.”