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Zeitung für Solidarität und Widerstand

„From the River to the Sea: Palestine will be free!“ – bald strafbar?

Vor dem Hintergrund des eskalierenden Krieges in Palästina und Israel fordert der deutsche Staat bedingungslose Solidarität mit Israel. Nun soll eine bekannte Parole verboten werden. Woher kommt sie und wie ist das Verbot zu bewerten? – Ein Kommentar von Paul Gerber

Die im palästinensischen Befreiungskampf weltweit beliebte Parole „From the River to the Sea: Palestine will be free!“ (Vom Fluss bis zum Meer: Palästina wird frei sein) wird von der Berliner Staatsanwaltschaft offiziell als strafbar eingeordnet. Das teilte die Deutsche Presseagentur am 13. Oktober mit. Die Parole bezieht sich auf den Jordan-Fluss und das Mittelmeer also die beiden Gewässer, die im Osten und Westen das historische Gebiet Palästinas eingrenzen.

Konkret will die Berliner Staatsanwaltschaft darin den Anfangsverdacht von Volksverhetzung nach Paragraph 130 StGB erkennen. Der Grund dafür liegt der Argumentation der Staatsanwaltschaft zufolge darin, dass diese Parole das Existenzrecht des israelischen Staates in Frage stellt.

Schon vor dieser öffentlichen Erklärung hatte die Polizei bundesweit entsprechend agiert und in verschiedenen Städten, vor allem aber in Berlin in der letzten Woche hunderte Menschen festgenommen, weil sie eine Palästina-Fahne oder ein Palästinensertuch trugen – oder eben diese Parole riefen.

Die Losung hat sich also zu einem der Hauptansatzpunkte für die willkürlichen Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland entwickelt. Was ist dran an der Argumentation der Berliner Staatsanwaltschaft und wie sollten wir uns zu dieser Parole verhalten?

Im ersten Teil dieses ausführlichen Artikels werde ich mich inhaltlich mit der dieser Tage kriminalisierten Losung auseinandersetzen, und im zweiten Teil soll nachvollzogen werden, wie die aktuelle Kriminalisierung der Parole Stück für Stück vorbereitet wurde und die einzelnen Elemente der zugrundeliegenden Argumentation in jüngster Vergangenheit etabliert wurden.

Die historische Bedeutung der Parole

Vom Fluss bis zum Meer: Palästina wird frei sein! Was ist damit gemeint? Die Parole wurde ursprünglich von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ins Leben gerufen und soll – entsprechend der zwischen 1964 und 1993 herrschenden Ansicht in der palästinensischen Befreiungsbewegung – zum Ausdruck bringen, dass die Teilung Palästinas und die Gründung des Staats Israels auf palästinensischem Gebiet illegitim ist und dass Palästina als Ganzes von der israelischen Besatzung befreit werden muss.

Seit 1993 wird die Parole nicht mehr offiziell von der PLO verwendet, weil sie sich mit dem Oslo-Abkommen verpflichtete, die Existenz des Staates Israel anzuerkennen. Das Abkommen wurde damals in den kapitalistischen Ländern Europas als ernsthafter Vorstoß für eine friedliche Lösung und Auftakt zu einer Zwei-Staaten-Lösung – also insbesondere der Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gaza-Streifen – betrachtet.

Schon damals war dieses Ziel in der palästinensischen Befreiungsbewegung umstritten, weil es eben gleichzeitig bedeutete, den Anspruch auf große Teile des historischen Palästinas aufzugeben. Das Osloer-Abkommen wird dort häufig als Verrat am Kampf für ein freies Palästina gebrandmarkt.

Vor allem aber ist dieser Friedensprozess gescheitert. Ein palästinensischer Staat neben Israel im Freiluftgefängnis Gaza und dem vollkommen durch zionistische Siedlungen zerstückelten Westjordanland ist nach einhelliger Meinung von Expert:innen mittlerweile vollkommen unrealistisch.

Dementsprechend nahm auch die Kritik der Palästinenser:innen an der Fatah, der bis heute dominierenden Kraft in der PLO, zu, und eine Befreiung des ganzen historischen Palästinas rückte wieder mehr in den Vordergrund – und zwar sowohl für die fortschrittliche Opposition zur Fatah (PFLP, DFLP etc.) als auch für die deutlich stärkere islamisch-fundamentalistische Opposition (Hamas, Islamischer Djihad).

Woran stößt sich der deutsche Staat?

Für ein einheitliches freies Palästina einzutreten, ist offensichtlich eine Abkehr vom 1993 in Oslo geschlossenen Abkommen, das die Anerkennung Israels und das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung enthielt. Inhaltlich ist diese Abkehr genau der Punkt, den der deutsche Staat auf Teufel komm raus mit Repression überziehen will.

Oslo darf nicht infrage gestellt werden! Was aber ist heute das Abkommen von Oslo? Das Abkommen von Oslo ist tot. Die Zwei-Staaten-Lösung ist durch den Ausbau israelischer Siedlungen und Grenzanlagen im Westjordanland praktisch unmöglich geworden.

Heute darauf zu bestehen, dass die heutige Existenzform Israels nicht infrage gestellt werden darf, bedeutet unter dem Strich, den Status Quo zu legitimieren: Einen israelischer Staat, der immer offener rassistisch gegenüber Palästinser:innen agiert und immer aggressiver bemüht ist, sich auch die Reste des palästinensischen Territoriums mit seiner Siedlungs- und Vertreibungspolitik anzueignen, ohne echte Perspektive auf eine Zwei-Staaten-Lösung wie 1993 in Oslo angedacht.

Alles andere soll nach Ansicht der deutschen Behörden offenbar nun als ‚Volksverhetzung‘ gelten. Mit dem schwersten Geschütz, welches das deutsche Strafgesetzbuch überhaupt gegen bloße Meinungsäußerungen aufzubieten hat, soll diese Position durchgesetzt werden.

Zwar entspricht es dem Selbstverständnis des israelischen Staates, dass weder seine Existenz noch sein sogenanntes „Existenzrecht“ in irgendeiner Form in Frage gestellt werden darf. Die Diskussion über eine demokratische und progressive Lösung des sogenannten Nahost-Konflikts wird dadurch aber extrem verengt.

Denkverbote bei der Suche nach einer Lösung für die Palästina-Frage

International und auch in Israel ist scharfe Kritik an der momentanen gesellschaftlichen Ordnung auf dem Gebiet des historischen Palästinas wahrhaftig keine Seltenheit. Viele fortschrittlichere Israelis erkennen selbst an, dass es sich bei Israel um ein Apartheidsregime gegenüber den Palästinenser:innen handelt.

Auch die Festschreibung, dass Israel ein spezifisch jüdischer Staat sei, löst im Land selbst immer wieder heftige Kontroversen aus.

Viele progressiv denkende „Expert:innen“ und Kommentator:innen der Situation sehen eine demokratische Ein-Staaten-Lösung heute als viel realistischer und sinnvoller an als eine Zwei-Staaten-Lösung. Gerade in der palästinensischen Bevölkerung war der Wunsch nach einer solchen Lösung in den letzten Jahren zwischenzeitlich stark angewachsen. Auch israelische Intellektuelle sprechen sich dafür aus.

Ilan Pappe beispielsweise formuliert seine Vision für eine Ein-Staaten-Lösung im Interview mit Neues Deutschland 2021 wie folgt: „Einen demokratischen Staat, der die palästinensischen Flüchtlinge, die zurückkehren wollen, wieder aufnimmt, mit gleichen Rechten für alle, ohne Diskriminierung aufgrund von Religion, Nationalität, Rasse, Ethnie oder Geschlecht.“

Bezeichnenderweise sind es gerade eingefleischte Zionist:innen, die mittlerweile mitunter fordern, die Zwei-Staaten-Lösung solle doch noch umgesetzt werden, weil die Alternative dazu sei, dass die Palästinenser:innen, die faktisch auf von Israel kontrolliertem Gebiet leben, früher oder später anfangen würden, gleiche Rechte gegenüber den jüdischen Bürger:innen zu fordern.

So schreibt Yariv Oppenheimer von der israelischen NGO „Peace Now“: „Sollte Israel den Palästinensern das volle Wahlrecht gewähren, würde der „Staat Israel“ schnell in den „Staat Palästina“ verwandelt werden. Es käme zu einer Änderung der Einwanderungsgesetze weg von einer freien Einwanderung von Juden hin zu einem Zustrom palästinensischer Flüchtlinge. Darüber hinaus würden Fahne, Hymne und der jüdische Charakter des Staates beendet. Das wäre der Todesstoß für die zionistische Bewegung.“

Wir sehen: Yariv Oppenheimers Alptraum vom Ende des Zionismus entspricht Ilan Pappes Traum von einem einzigen demokratischen Staat für Palästinenser:innen und Israelis. Ob der isrealische Historiker Ilan Pappe nach Meinung der Berliner Staatsanwaltschaft mit seiner Vision von einem friedlichen Zusammenleben von Araber:innen und Jüd:innen in einem Staat schon die Grenze zur Volksverhetzung überschreiten würde? Die Existenz Israels als eines jüdischen Staats wird hier jedenfalls sehr deutlich infrage gestellt.

Bedeutet ein freies Palästina die Vertreibung aller Jüd:innen?

Oftmals unausgesprochen im Hintergrund der ganzen Diskussion steht die Unterstellung von Seiten der eifrigen Verteidiger:innen Israels, dass der Ruf nach einem freien Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordan nicht nur mit der Auflösung des Staats Israels in seiner heutigen Form, sondern auch mit der Vertreibung aller Israelis einhergehen würde.

Hierbei wird die brutale, rassistische Logik des Zionismus, der letztlich einen alleinigen Anspruch der Jüd:innen auf das ganze historische Palästina proklamiert, auf alle antizionistischen Alternativmodelle projiziert. Die Vision eines Staates, in dem Angehörige verschiedener Religionen wirklich gleichberechtigt zusammenleben, scheint schlicht den Horizont der federführenden Kräfte im israelischen Staat, aber auch den seiner treuen Unterstützer:innen in Bundesregierung und Berliner Staatsanwaltschaft zu übersteigen – oder sie ist eben politisch nicht gewollt, weil sie die Grundidee und alle Rechtfertigungen für das Verhalten Israels in ihren Grundfesten erschüttern würde.

Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein nicht banales Problem. Die über 75 Jahre andauernde Unterdrückung und Vertreibung von Palästinser:innen – vorgeblich, um dem Projekt einer Heimstätte für Jüd:innen zur Entfaltung zu verhelfen – hat nicht nur unermessliches menschliches Leid, sondern auch unermessliche Wut und Hass auf die Besatzungsmacht hervorgebracht.

Wut und Hass, die durchaus teilweise die Grenze zum Hass gegen Jüd:innen überschreiten beziehungsweise sich damit vermischen. Ebenso, wie der zionistische Fanatismus die systematische Herabwürdigung und Entmenschlichung der Palästinenser:innen mit sich bringt, wie jüngst vom israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant bei der Ankündigung der Offensive gegen Gaza eindrucksvoll dokumentiert wurde: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“

Als erste Voraussetzung, damit ein dauerhafter Frieden entstehen kann, ist ein vollständiges Ende der israelischen Besetzung auf den heute den Palästinenser:innen zugestandenen Gebieten sicher eine Minimalbedingung für alle weiteren Schritte.

Andererseits ist es ganz offensichtlich keine ausreichende oder realistische  Politik, darauf zu beharren, dass der Aufbau des Staates Israels von Anfang an illegitim war, dass die Zeit bis zum 13. Mai 1948 zurückgedreht werden müsse und die Israelis in die Herkunftsländer ihrer Familien in Europa und Afrika zurückkehren sollen. Und das muss betont werden – gleichzeitig ist wahr, dass sowohl Existenz als auch „Existenzrecht” Israels seit seiner Entstehung nie bestanden haben, ohne zugleich die Existenz und das Existenzrecht Palästinas systematisch infrage zu stellen, zu untergraben und zu bedrohen.

Heute müssen wir der Tatsache ins Auge schauen, dass in Israel eine israelische Nation entstanden ist – wenn auch auf dem Rücken der unterdrückten Palästinser:innen. Eine realistische Lösung für die Palästina-Frage kann diese Tatsache nicht ignorieren und muss das Selbstbestimmungsrecht auch dieser Nation berücksichtigen ohne zuzulassen, dass es weiterhin das Selbstbestimmungsrecht der Palästinser:innen durchstreicht.

Die realistischste und ohnehin fortschrittlichste Lösung wäre damit das Bündnis zwischen den unterdrückten Palästinenser:innen und Israelis, der gemeinsame Sturz des Apartheidregimes und der Aufbau eines gemeinsamen Staates, ob als einheitlicher Staat oder als Föderation. Dies wäre zugleich die einzige Möglichkeit, sich von dem Einfluss verschiedenster imperialistischer und regionaler Mächte zu lösen, die heute sowohl Israel als auch die palästinensische Befreiungsbewegung als Spielball und Instrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen nutzen.

Diese politischen Ziele wären zugleich Grundpfeiler für eine sozialistische Republik auf dem Gebiet des historischen Palästinas.

Es ist also klar, warum die Parole für ein einheitliches und freies Palästina verteidigt und unterstützt werden sollte – ganz unabhängig davon, wie ein solcher demokratischer Staat am Ende heißt.

Hier geht es zum Teil II.

Paul Gerber
Paul Gerber
Paul Gerber schreibt von Anfang bei Perspektive mit. Perspektive bietet ihm die Möglichkeit, dem Propagandafeuerwerk der herrschenden Klasse in diesem Land vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse aus etwas entgegenzusetzen. Lebensmotto: "Ich suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen." (Henry Ford)

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