`
Donnerstag, Mai 2, 2024
More

    Wie der deutsche Staat den Ruf nach einem freien Palästina kriminalisiert

    Teilen

    Parolen wie „From the River to the Sea: Palestine will be free!“ werden vom deutschen Staat momentan mit starker Repression überzogen. Angeblich wird hier die Existenz Israels in Frage gestellt. Vor kurzer Zeit war beides noch von der Meinungsfreiheit gedeckt. – Ein Kommentar von Paul Gerber

    Im ersten Teil dieses Artikels stand die inhaltliche Dimension der Parole „From the River to the Sea: Palestine will be free!“ im Fokus. Dort habe ich die Herkunft und Entwicklung dieser Losung skizziert und inhaltlich begründet, warum die momentanen Versuche, diese Parole per se zu kriminalisieren im Angesicht einer gescheiterten Zwei-Staaten-Lösung faktisch bedeuten den Status Quo in Israel und Palästina, der von einer großen Anzahl bürgerlicher Institutionen als Apartheidstaat charakterisiert wird, zu zementieren.

    Für eine Lösung des Konflikts im Interesse der israelischen und palästinensischen Bevölkerung dürfen wir keine Denkverbote hinnehmen, die der deutsche Staat mit Repression durchsetzen will. Insbesondere jeder Gedanke an einen oder mehrere föderativ verbundene sozialistische Staaten zwischen Jordan und Mittelmeer ist abwegig, wenn die Existenz eines Apartheidregimes die Verhandlungsgrundlage darstellt.

    In diesem Artikel soll auf den folgenden Seiten nachgezeichnet werden, wie der deutsche Staat das Verbot und die Kriminalisierung des Rufs nach einem freien Palästina Stück für Stück und jahrelang vorbereitet hat und warum wir uns dieser Kriminalisierung widersetzen können und müssen.

    Schon auf den ersten Blick scheint die Ansicht der Berliner Staatsanwaltschaft sehr weit hergeholt. Der Paragraph 130 StGB wurde in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich in Bezug auf die offene Verbreitung von Nazi-Propaganda genutzt. Die Parole für ein freies Palästina wird nun also mit Sätzen wie „Tod allen Juden“ oder der offenen Leugnung des Holocausts gleichgesetzt.

    Das ganze argumentative und juristische Konstrukt beruht auf zwei wesentlichen Säulen: Erstens der Gleichsetzung von Judentum und dem Staat Israel und zweitens der tatsächlichen Verschärfung von Gesetzestexten in den letzten Jahren.

    Die Gleichsetzung des Staates Israel mit dem Judentum

    Diese Gleichsetzung zwischen Israel und dem Judentum in den Augen des deutschen Staates fällt nicht aus heiterem Himmel, sondern ist ideologischer Kern der heutigen Form des Zionismus – quasi der Staatsideologie Israels. Er vertritt die Position, dass die Jüd:innen einen eigenen, rein jüdischen Staat benötigen, um sich vor dem potenziell antisemitischen Rest der Welt zu schützen und – mittlerweile ganz offen – dass Israel als legitimer Vertreter des Judentums Anspruch auf das ganze Gebiet des historischen Palästinas hätte.

    Die Kehrseite dieser Ideologie ist, dass ein Infragestellen der heutigen israelischen Gesellschaftsordnung oder auch nur Kritik an Israel direkt als antisemitisch behandelt wird. Von der Bundesregierung wurde diese Haltung offiziell im September 2017 in Form der sehr umstrittenen Antisemitismus-Definition der „Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken“ (IHRA) übernommen. Das entscheidend Neue an dieser Definition war, dass sie offiziell davon spricht, dass sich Antisemitismus auch als Kritik an jüdischen Institutionen wie zum Beispiel dem Staat Israel äußern könne.

    Sie soll seitdem zum Beispiel in der Ausbildung von Polizist:innen Anwendung finden, ein Schritt der Bundesregierung, der damals unter anderem vom „Zentralrat der Juden in Deutschland“ und dem „American Jewish Comitee“ (AJC) begrüßt wurde. Letzteres erklärte, dass es sich nun eine schärfere Verfolgung von vermeintlich antisemitischen Straftaten erhoffe.

    Diese neue Definition wurde aber nicht nur begrüßt, sondern unter anderem von jüdischen Forscher:innen mitunter hart kritisiert, weil sie den Unterschied zwischen nicht-antisemitischem Antizionismus und Antisemitismus verwische. 2021 erschien als Ergebnis einer Konferenz von 20 Wissenschaftler:innen die “Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus” (Jerusalem Declaration on Antisemitism, abgekürzt JDA), eine implizite Kritik an der von der Bundesregierung übernommenen Antisemitismus-Definition.

    In dieser Erklärung wurde unter anderem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Infragestellen der heutigen Existenzform des Staates Israels bis hin zu seiner Ersetzung durch andere staatliche Gebilde keinen Antisemitismus darstelle: „Es ist nicht antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Menschen ‘zwischen Fluss und Meer’ volle Gleichberechtigung gewährleisten; ob in Form von zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderativen Staat oder irgendeiner anderen Form.“ Für den deutschen Staat spielte dieses Ereignis wenig überraschend, aber bedauerlicherweise keine Rolle.

    Im Jahr 2018 wurde nach jahrelanger Debatte vom israelischen Parlament das sogenannte „Nationalstaatsgesetz“ beschlossen. In diesem wurde festgehalten, dass Israel ein jüdischer Staat sei. Hebräisch blieb als einzige Amtssprache bestehen, während Arabisch zu einer Sprache mit Sonderstatus herabgestuft wurde. Außerdem wurde festgehalten, dass das vereinte Jerusalem die legitime Hauptstadt Israels sei und zionistische Siedlungen in den besetzen Gebieten im Interesse des Staates seien.

    Das Gesetz ist ein durch und durch reaktionäres, rassistisches Gesetz, was nicht nur die schon vorher bestehende Ungleichbehandlung von palästinensischen und jüdischen Bürger:innen Israels weiter zementierte, sondern auch verschiedene Vorstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen beinhaltete. Gleichzeitig wurde Israel damit nun auch offiziell zu einer „rein jüdischen Institution“ im Sinne der oben erwähnten IHRA-Defintion von Antisemitismus, wie es die Ideologie des Zionismus schon vorher behauptet hatte.

    2019 folgte ein Beschluss des Bundestags, der massiv von israelischen Lobby-Institutionen vorangetrieben worden war. In der öffentlichen Wahrnehmung beinhaltete dieser Beschluss in erster Linie eine Verurteilung der israelkritischen „BDS-Kampagne“. Weit weniger beachtet wurde folgende Passage: „Räumlichkeiten und Einrichtungen, die unter der Bundestagsverwaltung stehen, keinen Organisationen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen, zur Verfügung zu stellen.“

    Auch dieser Schritt war stark umstritten und wurde unter anderem selbst von israelischen Intellektuellen kritisiert. Wohlgemerkt war jedoch von Volksverhetzung bei Infragestellung des israelischen Existenzrechts damals weder in diesem Beschluss noch im Rahmen der darum stattfindenden öffentlichen Diskussion die Rede.

    Die juristische Verschärfung der Repression gegen Palästina-Solidarität

    Im Jahr 2022 kam es dann zu flächendeckenden Verboten gegen Demonstrationen um den Nakba-Tag (15. Mai) herum, insbesondere in Berlin. Dass angeblich oder tatsächlich das Existenzrecht Israels in Frage gestellt werden würde, spielte schon damals eine Rolle bei der Begründung der Verbote – jedoch noch deutlich indirekter als heute, gut ein Jahr später, in der Argumentation der Berliner Staatsanwaltschaft. Konkret wurde zu diesem Zeitpunkt argumentiert, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, könne zu Gewalt anstacheln. Juristisch wurde es also für sich genommen noch nicht als Straftat gewertet.

    Und auch heute ist die Frage der Strafbarkeit nach §130 StgB jedenfalls auch in der deutschen Rechtsordnung definitiv nicht geklärt. So betonte eine Polizeisprecherin noch am 12. Oktober 2023, dass die Aussage „From the River to the Sea: Palestine will be free!“ nicht per se strafbar sei; nur um am Tag darauf bekannt zu geben, dass man nun auf Grundlage eben dieser Parole Ermittlungen eingeleitet hätte.

    Bezeichnenderweise beschwerte sich eine von der Innenministerkonferenz 2021 ins Leben gerufene Kommission (Bund-Länder-Arbeitsgruppe) schon in ihrem Abschlussbericht, der am 2. September 2022 veröffentlicht wurde, genau über diese uneindeutige Rechtslage:

    „Die Rückmeldungen [aus den einzelnen Bundesländern] ergaben, dass auf Israel bezogene und antisemitische Aktionen, die insbesondere im Zuge des Demonstrationsgeschehens im Jahr 2021 sichtbar wurden, oftmals aber unterhalb der Schwelle eines Straftatbestandes blieben und sich daher nicht im „Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität“ (KPMD-PMK) widerspiegeln.“

    Eine der wesentlichen Schlussfolgerungen dieser Kommission war, dass Aussagen, die die Existenz Israels in Frage stellen, unter Strafe gestellt werden müssten, und sie schlägt der Bundesebene vor, entsprechende Gesetzesverschärfungen vorzunehmen. Auch in diesem Bericht wird die Parole „From the River to the Sea: Palestine will be free“ explizit genannt.

    Scheinbar wurden die „Empfehlungen“ dieser Kommission im deutschen Staatsapparat sehr schnell berücksichtigt, denn schon im Oktober wurde vom Bundestag – ohne inhaltliche Diskussion – eine Verschärfung des auch jetzt angeführten Paragrafen 130 StGB (Volksverhetzung) beschlossen. Konkret wurde ein Absatz hinzugefügt, der auch das „Leugnen“, „Billigen“ oder „gröbliche Verharmlosen“ anderer Völkermorde und Kriegsverbrechen außer der des Nationalsozialismus unter Strafe stellt.

    Wie die Berliner Staatsanwaltschaft die Ansicht, dass die Parole „From the River to the Sea: Palestine will be free“ nach diesem Paragraphen strafbar sei, genau begründet, wurde nicht bekannt gegeben. Da die anderen Absätze sich aber entweder auf den Nationalsozialismus beziehen oder auf die Aufstachelung zum Hass gegen bestimmte Personengruppen, ist der 2022 eingeführte Absatz die naheliegendste Grundlage dafür, Palästina-Solidarität in dieser Form für illegal zu erklären.

    Wenn sich diese Vermutung bewahrheitet, würde an diesem Beispiel deutlich werden, wie schnell derartige Gesetzesverschärfungen und Einschnitte in demokratische Rechte ganz konkrete juristische Konsequenzen haben können.

     

    Mit härteren Strafen gegen abweichende Meinungen?!

    Wie schnell sich die Repression gegen Solidaritätsbekundungen mit dem palästinensischen Befreiungskampf gerade verschärft, wird unter anderem daran deutlich, dass noch 2009 ein Berliner Gericht bei einer Demonstration während des damaligen Gaza-Kriegs sogar verschiedenste Auflagen der Versammlungsbehörde, die sich gegen das Tragen von Symbolen der Hamas richteten, kassierte. Die Begründung damals: Demonstrant:innen, die die Symbole der Hamas tragen, könne nicht pauschal unterstellt werden, dass sie für die Vernichtung Israels eintreten wollen. Heute ist ein solches Urteil schwer vorstellbar.

    Die juristische Verschärfung spielt sich hier auf sich gegenseitig bedingenden Ebenen ab: Einerseits wird das „Existenzrecht Israels“ infrage zu stellen strafbar und andererseits werden Parolen wie „from the River to the Sea: Palestine will be free“ pauschal als Leugnung dieses Existenzrechts gewertet.

    Welche Schlussfolgerung können gezogen werden?

    Die Kriminalisierung von Palästina-Solidarität in der hier dargestellten Weise geht offensichtlich auf politische Entscheidungen wie zum Beispiel die Übernahme einer neuen Antisemitismus-Definition aus dem Jahre 2017 oder die Arbeit der Innenministerkonferenz-Kommission zu Antisemitismus aus dem Jahr 2022 zurück.

    Gerade in den letzten Jahren zeigt sich eine Verschärfung, die in ihrer Argumentationslogik genau die Radikalisierung des israelischen Staates und seinen Wandel zum Selbstverständnis als rein jüdischer Staat nachvollzieht.

    Daraus folgt aber im Umkehrschluss, dass diese Verschärfung der Repression auch zugleich politisch zurückgeschlagen werden kann. Zum Beispiel, indem der Ruf nach einem freien Palästina vom Fluss bis zum Meer nicht verstummt und die deutsche Polizei ihn auch mit absurden Ermittlungsverfahren entsprechend des Volksverhetzungsparagrafen nicht zum Schweigen bringen kann.

    Sowohl die palästina-solidarische Öffentlichkeit als auch Menschen in diesem Land, die grundsätzlich für Meinungs- und Versammlungsfreiheit einstehen, müssen sich klar machen, dass die Kriminalisierung dieser Parole ein Angriff auf eben diese Grundrechte ist – ganz unabhängig davon, ob diese Losung am prägnantesten und besten die eigenen Ansichten zur Palästina-Frage zum Ausdruck bringt.

    Dementsprechend wird das Rufen dieser Parole im Angesicht der willkürlichen Repressionsmaßnahmen palästina-solidarischer Demonstrationen in Deutschland auch zu einem Akt des Widerstands gegen die auf juristischem Gebiet vorgetragenen Angriffe gegen die Meinungsfreiheit in Deutschland.

    Es muss betont werden, dass die Behauptung, wer die Parole „From the River to the Sea: Palestine will be free!“ ruft, mache sich der Volksverhetzung schuldig, bisher von keinem deutschen Gericht bestätigt wurde. Demnach ist gerade jetzt die Zeit, in der die politischen Ereignisse und der Druck der fortschrittlich gesinnten Öffentlichkeit in Deutschland besonders viel Einfluss auf den Ausgang solcher Gerichtsverfahren haben können.

    Nicht zuletzt wird das Maß und die Härte der Repression auch davon abhängen, ob eine kleine Minderheit der palästina-solidarischen Teile in der deutschen Bevölkerung isoliert an dieser Parole festhält, während sich die Mehrheit den angedrohten Strafen beugt, oder ob die Parole weiterhin – wie in den letzten Tagen zum Beispiel in Berlin – von einer unüberhörbaren Menge gerufen wird.

    Das Ideal, auf das wir hinarbeiten sollten, ist, dass sowohl die von der Polizei verkündeten Versammlungsverbote, als auch die Verbote bestimmter Parolen so massenhaft und unnachgiebig durchbrochen werden, dass alle weiteren Versuche zu ihrer Durchsetzung einfach sinnlos werden.

    • Paul Gerber schreibt von Anfang bei Perspektive mit. Perspektive bietet ihm die Möglichkeit, dem Propagandafeuerwerk der herrschenden Klasse in diesem Land vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse aus etwas entgegenzusetzen. Lebensmotto: "Ich suche nicht nach Fehlern, sondern nach Lösungen." (Henry Ford)

    Mehr lesen

    Perspektive Online
    direkt auf dein Handy!

    Weitere News