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Sonntag, April 28, 2024
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    Wie kam es zum Krieg? – Palästina im Netz der Regionalmächte

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    Die Zuspitzung der Widersprüche in Palästina/Israel ist in einen Krieg eskaliert. Die zunehmend verschärfte Besatzungspolitik hat zu einer massiven Antwort verschiedener palästinensischer militärischer Kräfte geführt. Am Samstag kam es zum schwersten Schlag gegen das israelische Militär seit Jahrzehnten, aber auch zu anti-israelischen Massakern an der Zivilbevölkerung. Als Vergeltung bombardiert das israelische Militär den Gazastreifen seit Sonntag massiv und hat alle Versorgungswege gekappt. Eine Invasion mit Bodentruppen scheint möglich. Auch die libanesische Hisbollah ist im Norden militärisch gegen Israel aktiv geworden. Die USA haben Truppen verlegt. Der Krieg droht sich auf andere Teile der Region auszuweiten. Was sind die Interessen der verschiedenen Akteure? – Eine Einschätzung von Tim Losowsky.

    Noch Anfang Oktober erklärte Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, bei einem Vortrag in Washington DC (USA): “Die Region des Nahen Ostens ist heute so ruhig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr”.

    Tatsächlich hatte es, vermittelt durch China, Gespräche zwischen dem Iran und Saudi-Arabien gegeben. Auch Saudi-Arabien und Israel hatten sich angenähert. Doch die Lage innerhalb von Israel und Palästina selbst schien Sullivan nicht in Rechnung gestellt zu haben. Nun, zwei Wochen nach diesem Statement, sind die Widersprüche in der Region so heftig wie „seit zwei Jahrzehnten nicht mehr“ implodiert.

    Die nationale Unterdrückung der Palästinenser:innen war in den letzten Jahren immer deutlicher selbst von westlich orientierten Menschenrechtsorganisationen wie “Human Rights Watch”, “Amnesty International” oder der größten NGO Israels, “B’tselem”, angeprangert worden. Sie bezeichneten Israel gar als „Apartheitsstaat“, der eine systematische Kolonisierung Palästinas anstrebe.

    Mit dem Machtantritt der neuen israelischen Regierung, die Ende 2022 ihren Amtseid abgelegt hatte,  entwickelte die Lage zusätzliche Sprengkraft. Gleich im ersten Absatz ihres Koalitionsvertrags hatte die neue Regierung unter Netanjahu erklärt: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unbestreitbares Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel, in Galiläa, dem Negev, dem Golan und Judäa und Samaria fördern und entwickeln”. Selbst die USA kritisierten diesen Vorstoß in Richtung eines „Groß-Israel“, das sich nicht nur die palästinensischen Gebiete, sondern auch Teile anderer Staaten einverleiben wolle.

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    Ringen um die Führung im Kampf um nationale Unabhängigkeit

    Die Hamas als regierende Partei im Gaza-Streifen stand schon länger unter Druck. Der Unmut der palästinensischen Arbeiter:innenklasse über Armut und Arbeitslosigkeit kam speziell im Gazastreifen zunehmend in Form von Protesten gegen die herrschende islamisch-fundamentalistische Organisation zum Ausdruck.

    Denn die Hamas-Bourgeoisie schien sich in den letzten zwei Jahren mit der Rolle der herrschenden Klasse im Gazastreifen zufrieden gegeben und mit Israel arrangiert zu haben. Damit konnten sich die doppelt-unterdrückten palästinensischen Arbeiter:innen nicht zufrieden geben, der Druck auf die Hamas wuchs. Zusätzlich bedrohte der Aufstieg anderer militanter Gruppen wie des “Palestinian Islamic Jihad” im Gazastreifen oder des organisatorisch unabhängigen, aber religiös geprägten “Lion’s Den” in Nablus/Jenin die führende Rolle der Hamas im bewaffneten nationalen Widerstand.

    Für die Palästinenser:innen hatte sich die Lage aufgrund der faschistischen Teile in der israelischen Regierung in den letzten Monaten zusätzlich massiv verschärft. Das israelische Militär und die Siedlungsbewegung hatten hunderte Opfer gefordert. Außerdem verstärkten sich die Versuche jüdischer Fundamentalisten, die Al-Aqsa-Moschee zu übernehmen.

    Die Hamas sah sich also gezwungen, in Aktion zu treten, um wieder an Einfluss zu gewinnen. Dazu sollten nicht nur die militärischen Aktionen, sondern auch die Geiselnahmen dienen, die voraussichtlich genutzt werden sollen, um einige der rund 5.000 palästinensischen politischen Gefangenen freizubekommen, die in israelischen Gefängnissen sitzen – darunter 1.350 ohne Anklage, 39 Frauen und 170 Kinder.

    Das religiös-reaktionäre, letztlich pro-kapitalistische Lager der Hamas scheint sich – anders als das bürgerliche Lager der mit den USA und Israel kooperierenden “Palästinensischen Autonomiebehörde” (PA) – tatsächlich jedoch nicht mit der nationalen Unterdrückung abfinden zu können. In den vergangenen Jahren wurde also nur der Anschein erweckt, sich arrangiert zu haben, während in Wirklichkeit der Gegenschlag vorbereitet wurde.

    Krieg in Israel und Palästina – Wie ist die aktuelle Lage einzuschätzen?

    Es gibt auch andere Kräfte in Palästina, wie etwa die “PFLP” oder die “DFLP”, die an den militärischen Aktionen beteiligt sind und aus einer säkularen und progressiven Tradition kommen. Führend sind jedoch die islamisch-fundamentalistischen Kräfte und zuvorderst die Hamas.

    Dabei geht es der palästinensischen Arbeiter:innenklasse oft weniger um die Übereinstimmung mit der konservativen, islamistischen Ideologie der Hamas. Viele Palästinenser:innen erleben die Fatah-geführte Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland als „Verräterin“, da diese mit dem israelischen Staat kooperiert und sich daran bereichert. So erscheint ihnen die Hamas als die einzige Partei, die über ausreichende organisatorische, technologische, militärische und finanzielle Kapazitäten verfügt, um gegen Israel zumindest zeitweise zu bestehen.

    Doch gerade in Bezug auf die überraschend gute finanzielle und militärische Ausstattung stellt sich natürlich die Frage, welche Regionalmacht die Hamas in welchem Maße unterstützt.

    Palästina im Kampf zwischen den Regionalmächten

    Der Iran mit seiner schiitischen islamisch-fundamentalistischen Regierung bemüht sich schon seit langem, als Regionalmacht zu agieren. Um sich weiter ausdehnen zu können, sollte auch ein Kompromiss mit dem Erzrivalen Saudi-Arabien dienen, der durch China vermittelt wurde. Doch gerade die zeitgleich stattfindende saudisch-israelische Annäherung dürfte dem Iran ein Dorn im Auge gewesen sein.

    Das Sabotieren dieser Annäherung könnte also ein weiterer Grund dafür sein, warum der Iran ein Interesse an der Eskalation in Israel/Palästina hat. Denn die herrschende Klasse Saudi-Arabiens wäre in einer solchen Situation gezwungen, sich öffentlich mit den Palästinenser:innen zu solidarisieren, sonst drohten massive Proteste in der Bevölkerung. Dasselbe gilt im Übrigen für den gesamten Nahen Osten.

    Welche Rolle der Iran nun konkret spielte, ist bisher noch nicht abzuschätzen. Der Staat weist jegliche Beteiligung an den Aktionen zurück. Mehrere Analyst:innen sehen jedoch im Umfang der Angriffe die finanzielle und auch militär-taktische Unterstützung des Iran, der etwa die militärischen Aktionen des IS ausgewertet und dies an die Kräfte in Palästina weitergeleitet haben könnte.

    Umgekehrt ist es ebenso unwahrscheinlich, dass die Hamas einen solchen Angriff ohne Absprache mit ihrem langjährigen Unterstützer durchgeführt hätte. Gleichwohl ist zu beachten, dass der militärische Arm der Hamas diese Operation wohl in solch einer Geheimhaltung behandelt hat, dass selbst die israelische High Tech-Überwachung nichts davon erfahren haben soll.

    Direkten Einfluss hat der Iran dagegen sehr wohl auf die libanesische schiitische Hisbollah, die faktisch einen Teil des Libanons kontrolliert. An der libanesisch-israelischen Grenze kam es schon bereits zu Auseinandersetzungen. Die Hisbollah griff mit Raketen an, woraufhin die israelische Armee Militärdrohnen und Kampfhubschrauber aussendete. Bisher gibt es jedoch noch keinen offiziell verlautbarten „Kriegseintritt“ durch die schiitisch-fundamentalistische Miliz, die über mehrere tausend Kämpfer verfügt.

    Die herrschende Klasse Israels wiederum war kurz vor dem Ausbruch zerstritten. Gerade die Reform des Justizsystems hatte zu einer Krise innerhalb der führenden Elite geführt. Auch zehntausende Menschen aus der israelischen Arbeiter:innenklasse und dem Kleinbürgertum strömten regelmäßig in Massen auf die Straße, um gegen die Abschaffung der Gewaltenteilung zu protestieren. Die Lage der Palästinenser:innen spielte in diesen Protesten jedoch kaum eine Rolle, auch wenn immer wieder einige antikoloniale israelische Kräfte diese Frage mit aufgriffen.

    Die Krise der Herrschenden in Israel war damit eine Situation, die militär-taktisch durchaus günstig für einen Angriff schien. Diese Situation hat sich mit Ausbruch des Kriegs jedoch schlagartig geändert: der israelische Präsident Jitzchak Herzog zeigte sich offen für eine Notstandsregierung. Auch prescht die Regierung erneut mit massiver Härte vor.

    So erklärte der israelische Verteidigungsminister, den Gazastreifen vollständig blockieren zu wollen: „Keine Elektrizität, kein Essen, kein Benzin, kein Wasser, alles ist blockiert. Wir bekämpfen menschliche Tiere und handeln auch so“. Damit kündigte Yaov Gallant praktisch unverhohlen Kriegsverbrechen an.

    Im ähnlichen Stil erklärte ein israelischer Abgeordneter, dass die Operation der palästinensischen Kräfte das israelische „Pearl Harbor“ sei. Es brauche nun eine zweite „Naqba“, welche die Vertreibung und Flucht der Palästinenser:innen von 1948 in den Schatten stellen müsse.

    Unterdessen hat der ägyptische Geheimdienstchef erklärt, er habe Netanjahu zehn Tage zuvor gewarnt, dass “etwas Ungewöhnliches, eine schreckliche Operation” im Bereich des Gazastreifens zu erwarten sei. Netanjahu wies dies scharf zurück. Ob Teile des israelischen Staats Bescheid wussten und das Vorhaben bewusst oder aus Fehlkalulation zugelassen haben oder tatsächlich überrascht wurden – klar ist, dass die Krise in der herrschenden Klasse vorübergehend beigelegt ist.

    Die USA dürften die Zuspitzung der Lage nicht mit Freude sehen. Tatsächlich haben sie im vergangenen Jahr auf verschiedenen Wegen – offen und verdeckt – versucht, die Aggressivität der israelischen Regierung zu begrenzen. Der Hintergrund ist nicht etwa die Menschenfreundlichkeit des Landes, sondern dessen akutes Interesse, sich in erster Linie um China, in zweiter Linie um Russland und erst in dritter oder vierter Linie überhaupt noch um den Nahen und Mittleren Osten zu kümmern.

    Ausdruck davon ist nicht nur der Abzug aus Afghanistan und dem Irak, sondern etwa auch, dass die USA 300.000 gelagerte Artillerie-Granaten aus Israel zurückführten, um sie in die Ukraine zu senden. Zugleich hat der vorübergehende Rückzug der USA auch ein Fenster geöffnet für Kräfte wie den Iran, sich wieder mehr auszubreiten – und wahrscheinlich auch für die palästinensischen Kräfte.

    Nun haben die Amerikaner jedoch rasch einen Flugzeugträger und weitere Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in die Region verschoben. Zugleich erklärte der oberste General der USA, Charles Brown, die US-Linie: „Wir wollen nicht, dass sich der Konflikt ausweitet, und wir wollen, dass der Iran diese Botschaft laut und deutlich hört”.

    Rechtsentwicklung in Israel – wie soll man die Haltung der USA und Deutschlands verstehen?

    Wie geht es weiter?

    Israel spricht mittlerweile von rund 1.200 eigenen Todesopfern. Darunter befinden sich neben Militärangehörigen und bewaffneten Siedlern auch vorwiegend junge Menschen, die bei einem anti-israelischem Massaker auf einem Musik-Festival durch palästinensische Kämpfer getötet wurden. Hierbei soll es auch zu Vergewaltigungen im Vorfeld der Erschießungen gekommen sein. Israelische Quellen sprechen von der Hamas als Angreifer und von 260 Toten.

    Die israelischen Kriegseinsätze sind derweil in vollem Gange. In den vergangenen Nächten kam es zu Bombardierungen auf Gaza, die als Rache-Aktionen gewertet werden können. Während das israelische Militär in der Vergangenheit Zivilist:innen immer wieder vor Bombardements gewarnt hatte, wird aus verschiedenen Augenzeugenberichten deutlich, dass dies dieses Mal nicht der Fall war. Es kam zu massiver Zerstörung in einem der dichtbesiedelsten Gebiete der Welt. Hierbei soll auch – international geächtetes – weißes Phosphor eingesetzt worden sein.

    Die Zahl der Toten im Gazastreifen stieg dementsprechend nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza auf 1.055, darunter mehr als 260 Kinder und 230 Frauen. Dies geschah etwa durch Angriffe wie auf den Marktplatz von Jabalia. Zudem wurden rund 230.000 Menschen obdachlos. Dazu kommen nach Angaben Israels 1.500 getötete Kämpfer der palästinensischen Operationen, sodass die Todeszahl auf palästinensischer Seite bei etwa 2.500 Menschen liegen dürfte.

    Der israelische Staat hat inzwischen 360.000 Reservisten einberufen. Seit Dienstag werde zudem damit begonnen, 4.000 in Israel produzierte Sturmgewehre an Siedler-Milizen zu verteilen, kündigte der rechtsextreme Fundamentalist und jüdische „Sicherheitsminister“ Itamar Ben-Gvir an.

    Ob eine Bodenoffensive in Gaza stattfinden wird, bleibt abzuwarten, da dies für die israelische Armee sehr kostspielig werden dürfte. Verschiedene Quellen berichten jedoch über solche Pläne. Entscheidend wird zudem die Frage sein, wie sich der Iran, die Hisbollah und die USA verhalten werden und ob der Krieg sich ausweitet.

    • Perspektive-Autor und -Redakteur seit 2017. Schwerpunkte sind Geostrategie, Rechter Terror und Mieter:innenkämpfe. Motto: "Einzeln und Frei wie ein Baum und gleichzeitig Geschwisterlich wie ein Wald."

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